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Die Beschenkte

Die Beschenkte

Titel: Die Beschenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Cashore
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er, ist irgendetwas zwischen einem Opportunisten und einem Verbrecher.«
    Sie erstarrte. Sie schaute Giddon an und sah noch nicht einmal sein vor Zorn gerötetes Gesicht, seinen Finger, der in die Luft stach. Sie sah Bo, wie er auf dem Boden im Übungsraum saß und genau die gleichen Worte sagte, die Giddon gerade gebraucht hatte. Vor Giddon.
    »Giddon, hast du das zu Bo gesagt?«
    »Katsa, ich habe mich noch nicht einmal mit ihm unterhalten, wenn du nicht dabei warst.«
    »Und jemand anders? Hast du diese Worte zu jemand anders gesagt?«
    »Natürlich nicht. Wenn du glaubst, ich verschwende meine Zeit …«
    »Bist du sicher?«
    »Ja. Ich bin sicher. Was soll das? Wenn er mich gefragt hätte, dann wäre ich nicht zu feige gewesen zu sagen, was ich denke.«
    Sie starrte Giddon ungläubig an, wehrlos gegen die Erkenntnis, die ihr allmählich kam und einen Platz in ihren Gedanken fand. Sie legte die Hand an die Kehle. Sie bekam keine Luft. Sie stellte die Frage, die sie stellen musste, und schauderte vor der Antwort, die sie bekommen würde.
    »Hast du diese Gedanken schon zuvor gehabt? Dachtest du das irgendwann, als er dabei war?«
    »Dass ich ihm nicht traue? Dass er ein Opportunist und Verbrecher ist? Ich denke das jedes Mal, wenn ich ihn anschaue.«
    Giddon spie es praktisch heraus, doch Katsa bemerkte es nicht. Sie beugte die Knie und legte langsam, entschlossen ihren Bogen auf die Erde. Dann stand sie auf, wandte sich von ihm ab und ging davon, einen Schritt nach dem anderen. Sie atmete ein und atmete aus und starrte geradeaus.
    »Du fürchtest, dass ich ihn beleidige«, schrie Giddon ihr nach, »deinen prächtigen Prinzen von Lienid! Und vielleicht sollte ich ihm wirklich meine Meinung sagen. Vielleicht verschwindet er schneller, wenn ich ihn dazu ermutige!«
    Sie hörte nicht zu, sie hörte nichts. In ihrem Kopf war zu viel Lärm. Bo hatte Giddons Gedanken gekannt. Und er hatte ihre eigenen gekannt, das wusste sie. Wenn sie wütend gewesen war, wenn sie ihn bewundert hatte. Und bei vielen anderen Gelegenheiten – es musste sie gegeben haben, obwohl sie ihr jetzt nicht einfielen, weil sie so durcheinander war.
    Sie hatte ihn für einen Kämpfer gehalten. Nur für einen Kämpfer, und in ihrer Dummheit hatte sie geglaubt, er sei einfach ein scharfer Beobachter. Sie hatte ihn für seine Aufmerksamkeit bewundert.
    Sie hatte einen Gedankenleser bewundert!
    Sie hatte ihm vertraut, und das hätte sie nicht tun sollen. Er hatte ein falsches Bild von sich vermittelt, hatte seine Gabe falsch dargestellt. Und das war, als hätte er gelogen.

Raffin schaute überrascht von seiner Arbeit auf, als Katsa in sein Arbeitszimmer stürzte. »Wo ist er?«, fragte sie und blieb dann abrupt stehen, denn da war er, ausgerechnet da, er saß bei Raffin auf der Tischkante, sein Kinn war violett verfärbt, die Ärmel waren aufgerollt und die Augen schickten einen leuchtenden Blick in ihre.
    »Ich muss dir etwas sagen, Katsa«, sagte er.
    »Du bist ein Gedankenleser! Du bist ein Gedankenleser, und du hast mich angelogen.«
    Raffin stieß einen kurzen Fluch aus und sprang auf. Er lief zur Tür und schloss sie hinter ihr.
    Bo wurde rot, doch er hielt ihrem Blick stand. »Ich bin kein Gedankenleser!«
    »Und ich bin nicht dumm«, schrie sie, »also hör auf, mich anzulügen. Sag mir, was weißt du alles? Welche meiner Gedanken hast du gestohlen?«
    »Ich bin kein Gedankenleser«, wiederholte er, »ich spüre die Menschen.«
    »Und was soll das bedeuten? Die Gedanken der Menschen spürst du!«
    »Nein, Katsa, hör zu. Ich spüre Menschen. Denk an meinnächtliches Sehvermögen, Katsa, oder die Augen am Hinterkopf, die du mir nachgesagt hast. Ich spüre Menschen, wenn sie in meiner Nähe sind, denken und fühlen und sich bewegen, ich spüre ihre Körper, ihre physische Energie. Und nur wenn …« Er schluckte. »Nur wenn sie etwas über mich denken, spüre ich auch ihre Gedanken.«
    »Und das ist kein Gedankenlesen?« Sie schrie so laut, dass er zusammenzuckte, aber er schaute sie immer noch unverwandt an. »Gut. Es hat etwas mit Gedankenlesen zu tun. Aber das, was du mir vorwirfst, kann ich nicht.«
    »Du hast mich angelogen! Ich habe dir vertraut!«
    Raffins sanfte Stimme durchbrach ihre Verzweiflung. »Lass ihn erklären, Katsa.«
    Sie drehte sich zu Raffin um, ungläubig, verstört, dass er offenbar die Wahrheit kannte und trotzdem auf Bos Seite stand. Dann schnellte sie herum zu Bo, der es immer noch wagte, ihren Blick zu erwidern, als

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