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Die Beschenkte

Die Beschenkte

Titel: Die Beschenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Cashore
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Vorstellungen fehlen. »Was stellt er sich denn vor?«
    »Warum lässt du es dir nicht von ihm erzählen?«
    »Ich habe keinen Bedarf an der Gesellschaft eines Gedankenlesers.«
    »Er reist morgen ab, Kat.«
    Sie starrte ihn an. »Was meinst du damit, er reist ab?«
    »Er verlässt den Hof«, sagte Raffin, »endgültig. Er reist nach Sunder, und dann möglicherweise nach Monsea. Die Einzelheiten hat er noch nicht geplant.«
    Ihre Augen standen voller Tränen. Anscheinend konnte sie dieses sonderbare Wasser nicht beherrschen, das in ihre Augen drang. Sie starrte auf ihre Hände, und eine Träne fiel ihr in die Handfläche.
    »Ich glaube, ich schicke ihn her«, sagte Raffin, »damit er es dir selbst erzählt.«
    Er stand vom Bett auf und kam zu ihr, bückte sich herab und küsste sie auf die Stirn. »Liebe Katsa«, sagte er, dann ging er hinaus.
    Sie starrte auf das Schachbrettmuster ihres Marmorbodens und fragte sich, wie sie nur so verzweifelt sein konnte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie erinnerte sich nicht daran, geweint zu haben, nicht ein einziges Mal in ihrem Leben. Nicht bevor dieser dumme Lienid an ihren Hof gekommen war, sie belogen hatte und dann ankündigte, dass er abreiste.
    Er blieb direkt an der Tür stehen und schien unentschlossen, ob er näher kommen oder auf Abstand bleiben sollte. Sie wusste auch nicht, was sie wollte, wusste nur, dass sie ruhig bleiben, ihn nicht anschauen und nichts denken wollte, was er spüren könnte. Sie stand auf, ging in ihr Esszimmer ans Fenster und schaute hinaus. Der Hof war leer und leuchtete gelb im Licht der sinkenden Sonne. Sie spürte, wie er sich im Türrahmen hinter ihr bewegte.
    »Verzeih mir, Katsa«, sagte er. »Ich bitte dich um Verzeihung.«
    Nun, das war leicht beantwortet. Sie verzieh ihm nicht.
    Sie hörte, wie er einen Schritt näher kam. »Wie – wie hast du es erfahren?«, fragte er. »Wenn du es mir erzählen willst?«
    Sie legte die Stirn an die Glasscheibe. »Und warum gebrauchst du nicht deine Gabe dazu, die Antwort auf diese Frage zu finden?«
    Er schwieg einen Moment. »Ich könnte es vielleicht«, sagte er dann, »wenn du genau daran denken würdest. Aber das tust du nicht und ich kann nicht in dir umherwandernund jede Information aufspüren, die ich haben will. So wenig wie ich meine Gabe davon abhalten kann, mir Dinge zu zeigen, die ich nicht wissen will.«
    Sie antwortete nicht.
    »Katsa, ich weiß jetzt nur, dass du wütend bist, wütend von Kopf bis Fuß, und dass ich dich verletzt habe und dass du mir nicht verzeihst. Und mir nicht mehr vertraust. Das ist alles, was ich im Moment weiß. Und meine Gabe bestätigt nur, was ich mit eigenen Augen sehe.«
    Sie seufzte schwer und sprach zur Fensterscheibe. »Giddon hat mir gesagt, dass er dir nicht traut. Und dabei benutzte er die gleichen Worte, die du zuvor gebraucht hattest, genau die gleichen Worte. Und …«, sie hob die Hand, »es gab noch andere Hinweise. Aber Giddons Worte haben es mir bewiesen.«
    Er war näher gekommen. Wahrscheinlich lehnte er am Tisch, die Hände in den Taschen und die Augen auf ihren Rücken gerichtet. Sie konzentrierte sich auf die Aussicht. Zwei Damen überquerten den Hof unter ihr, sie hatten sich untergehakt. Ihre Locken waren oben auf ihre Köpfe gesteckt und wippten auf und nieder.
    »Bei dir war ich nicht sehr vorsichtig«, sagte er. »Nicht vorsichtig genug, um es zu verbergen. Ich würde sogar sagen, dass ich manchmal geradezu unvorsichtig war.« Er machte eine Pause, dann war seine Stimme leise, als würde er zu seinen Stiefeln sprechen. »Weil ich wollte, dass du es weißt.«
    Auch das sprach ihn nicht frei. Er hatte ihre Gedanken aufgespürt, ohne es ihr zu sagen. Gut, er hatte es ihr sagen wollen, aber das war noch nicht einmal der Anfang einer Absolution.
    »Ich konnte es dir nicht sagen, Katsa, unmöglich.« Sie fuhr zu ihm herum.
    »Hör auf! Hör auf damit! Hör auf, meine Gedanken zu beantworten!«
    »Ich verstecke es nicht vor dir, Katsa! Ich verstecke es nicht mehr.«
    Er lehnte nicht am Tisch, hatte die Hände nicht in den Taschen. Er stand da und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Sein Gesicht – sie würde ihm nicht ins Gesicht sehen. Sie drehte sich wieder dem Fenster zu.
    »Ich werde es nicht mehr vor dir verstecken, Katsa«, wiederholte er. »Bitte. Lass mich erklären. Es ist nicht so schlimm, wie du denkst.«
    »Du hast leicht reden. Du bist es ja nicht, der seine Gedanken nicht mehr für sich allein

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