Die Beschenkte
Situation nicht fassen. Wie ertrug seine Mutter ihn und sein Großvater? Wie sollte das irgendwer ertragen?
Sie holte tief Luft und versuchte nachzudenken.
»Deine Fähigkeit zu kämpfen«, sagte sie und schaute in den dunkler werdenden Schlosshof, »erwartest du, dass ich glaube, du seist nicht mit der Fähigkeit zu kämpfen beschenkt?«
»Ich bin von Natur aus ein außergewöhnlich guter Kämpfer«, sagte er. »Alle meine Brüder sind das. Die königliche Familie ist in Lienid bekannt für ihr Geschick beim Nahkampf. Aber zusammen mit meiner Gabe – es ist ein enormer Vorteil im Kampf, jede Bewegung des Gegners im Voraus zu spüren. Wenn du das mit meinem unmittelbaren Sinn für Körper kombinierst, einem Sinn, der über das Sehen hinausgeht – dann verstehst du, warum mich außer dir nie jemand besiegt hat.«
Sie dachte darüber nach und konnte es dennoch nicht glauben. »Aber du bist zu gut. Du musst auch eine kämpferische Gabe haben. Sonst könntest du nicht so gegen mich kämpfen, wie du es getan hast.«
»Katsa, denk noch mal nach. Du kämpfst fünfmal besser als ich. Wenn wir kämpfen, hältst du dich zurück – bestreite das nicht, ich weiß es –, während ich mich kein bisschen zurückhalte. Du kannst mit mir machen, was du willst, und ich kann dir nichts tun …«
»Es tut mir weh, wenn du mich triffst …«
»Es tut dir nur einen Moment weh, und außerdem treffe ich dich nur, wenn du es zulässt, weil du zu sehr damit beschäftigt bist, mir den Arm aus der Gelenkpfanne zu drehen, um darauf zu achten, dass ich dich in den Magen boxe. Wie lange würdest du deiner Meinung nach brauchen, mich zu töten oder mir alle Knochen zu brechen, wenn du das wolltest?«
Wenn sie das wirklich wollte?
Er hatte Recht. Wenn sie vorhätte, ihn zu verletzen, ihm Arme oder Hals zu brechen, würde sie wahrscheinlich nicht sehr lange dazu brauchen.
»Wenn wir kämpfen«, sagte er, »gibst du dir große Mühe zu gewinnen, ohne mich zu verletzen. Dass dir das gewöhnlich gelingt, liegt an deinem phänomenalen Geschick. Ich aber habe dich noch nicht einmal verletzt, und glaub mir, ich habe es versucht.«
»Das ist also nur eine Tarnung«, sagte sie, »der beschenkte Kämpfer.«
»Ja. Meine Mutter dachte sich das aus, sobald klarwurde, dass ich das Kampfgeschick meiner Brüder teilte und dass meine Gabe es noch vergrößerte.«
»Warum hast du im Schlosshof von Murgon nicht gewusst, dass ich dich niederschlagen würde?«, fragte sie.
»Ich wusste es«, antwortete er, »doch erst im letzten Moment, und ich habe nicht schnell genug reagiert. Bis zum ersten Schlag wusste ich nichts von deinem Tempo. So jemand war mir noch nie begegnet.«
Die Farbe splitterte vom Fensterrahmen. Sie riss ein Stück ab und rollte es zwischen den Fingern. Dann seufzte sie. »Macht deine Gabe Fehler? Oder hat sie immer Recht?«
Sein Atmen klang fast wie ein Lachen. »Meine Gabe ist nicht immer genau. Und sie ändert sich ständig. Ich wachse immer noch hinein. Mein Sinn für das Körperliche ist ziemlich zuverlässig, solange ich nicht in einer großen Menschenmenge bin. Ich weiß, wo Leute sind und was sie machen. Aber was sie mir gegenüber empfinden – es ist noch nie vorgekommen, dass ich geglaubt habe, jemand lügt, und das stimmte nicht. Oder dass ich glaubte, jemand hätte vor, mich zu schlagen, und es war gar nicht so. Dennoch gibt es Momente, in denen ich nicht sicher bin – wenn ich etwas ahne, aber nicht genau weiß, was es ist. Die Gefühle anderer können sehr – kompliziert und schwer zu verstehen sein.«
Daran hatte sie nicht gedacht, dass jemand sogar für einen Gedankenleser schwer zu verstehen sein könnte.
»Heute bin ich mir sicherer als früher«, sagte er. »Als Kind war ich selten sicher. Diese enormen Wellen von Energie, Gefühl und Gedanken stürzten auf mich ein, und die meiste Zeit ertrank ich darin. Ich habe lange gebraucht, die wichtigen Dinge und Gedanken von den unwichtigen zu unterscheiden. Gedanken, die nur flüchtig sind, und solche, die irgendeine Art wesentliche Absicht in sich tragen. Ich bin darin viel besser geworden – aber meine Gabe stellt mich immer wieder vor Situationen, in denen ich keine Ahnung habe, was ich damit anfangen soll.«
Das kam ihr lächerlich vor, vollkommen lächerlich. Dabei hatte sie schon ihre eigene Gabe für überwältigend gehalten. Neben seiner erschien sie ganz unkompliziert.
»Es ist manchmal schwer, sie in den Griff zu bekommen«, sagte er, »meine
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