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Die Beschenkte

Die Beschenkte

Titel: Die Beschenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Cashore
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Gabe.«
    Einen Moment drehte sie sich zur Seite. »Hast du das jetzt gesagt, weil ich es dachte?«
    »Nein. Ich habe es gesagt, weil ich es dachte.«
    Sie drehte sich wieder zum Fenster. »Ich dachte es auch, zumindest etwas ganz Ähnliches.«
    »Ich glaube«, sagte Bo, »es ist ein Gefühl, das du verstehen kannst.«
    Sie seufzte wieder. Manches daran konnte sie wirklich verstehen, auch wenn sie das nicht wollte. »Wie nahe musst du jemandem körperlich sein, damit deine Gabe den anderen spürt?«
    »Das ist unterschiedlich. Und es hat sich mit der Zeit verändert.«
    »Was heißt das?«
    »Wenn es jemand ist, den ich gut kenne, ist meine Reichweite groß. Bei Fremden muss ich näher dran sein. Ich habe es heute gewusst, als du dich dem Schloss nähertest, ich habe gemerkt, als du in den Schlosshof gestürmt bist und aus dem Sattel gesprungen bist, und ich habe stark und klar deinen Zorn gespürt, als du zu Raffins Zimmern liefst. Meine Reichweite ist bei dir … größer als bei den meisten.«
    Draußen war es jetzt dunkler als in ihrem Esszimmer. Sie sah plötzlich sein Spiegelbild im Fenster. Er lehnte sich zurück an den Tisch, wie sie es sich zuvor ausgemalt hatte. Sein Gesicht, seine Schultern, seine Arme, alles hing herunter. Alles an ihm hing herunter. Er war unglücklich. Er schaute hinunter auf seine Füße, doch als sie ihn ansah, hob er den Blick und begegnete ihrem im Glas. Sie spürte plötzlich wieder die Tränen, und sie suchte nach Worten.
    »Spürst du die Anwesenheit von Tieren und Pflanzen? Von Steinen und Erde?«
    »Ich reise ab«, sagte er, »morgen.«
    »Weißt du es, wenn ein Tier in der Nähe ist?«
    »Könntest du dich umdrehen«, fragte er, »damit ich dich sehen kann, während wir miteinander sprechen?«
    »Kannst du meine Gedanken leichter lesen, wenn du mir ins Gesicht siehst?«
    »Nein. Ich schaue dich nur gern an, Katsa. Das ist alles.«
    Seine Stimme klang weich und traurig. Er war traurig über das alles, traurig über seine Gabe. Seine Gabe, die nicht seine Schuld war und die sie von ihm ferngehalten hätte, wenn er ihr gleich am Anfang davon erzählt hätte.
    Sie drehte sich zu ihm.
    »Früher habe ich Tiere und Pflanzen oder Landschaften nicht gespürt«, sagte Bo, »aber seit kurzem hat sich das verändert. Manchmal habe ich ein undeutliches Gefühl für etwas, das nicht menschlich ist. Es ist unberechenbar.«
    Katsa betrachtete sein Gesicht.
    »Ich gehe nach Sunder«, sagte er.
    Katsa verschränkte die Arme und schwieg.
    »Als Murgon mich nach deiner Rettungsaktion befragte, wurde mir klar, dass du meinen Großvater mitgenommen hattest. Ebenso klar erkannte ich, dass Murgon ihn für einen anderen festgehalten hatte. Aber ich bekam nicht heraus, für wen, nicht ohne Fragen zu stellen, die verraten hätten, was ich wusste.«
    Sie hörte zerstreut zu. Sie war müde, von zu vielen Neuigkeiten überwältigt, um sich auf die Einzelheiten der Entführung zu konzentrieren.
    »Ich glaube allmählich, dass es etwas mit Monsea zu tun hat«, sagte Bo. »Wir haben die Middluns, Wester, Nander, Estill und Sunder ausgeschlossen – du erinnerst dich bestimmt, dass ich an den meisten dieser Höfe gewesen bin. Ich weiß, dass ich nicht belogen wurde, außer in Sunder. Lienid ist nicht verantwortlich, davon bin ich überzeugt.«
    Ihre Wut war ihr irgendwann im Gespräch abhandengekommen. Sie spürte sie nicht mehr. Katsa bedauerte das, denn Wut war ihr lieber als die Leere, die an ihre Stelle getreten war. Sie bedauerte alles, was sich im Verhältnis zu Bo verändert hatte. Bedauerte den Verlust.
    »Katsa«, sagte er, »du musst mir zuhören.«
    Sie blinzelte und zwang ihre Gedanken zurück zu seinen Worten.
    »Aber König Leck von Monsea ist ein gütiger Mann«, sagte sie. »Er hätte keinen Grund.«
    »Vielleicht doch«, erwiderte Bo, »auch wenn ich nicht weiß, was das sein könnte. Irgendetwas stimmt nicht, Katsa. Ich erinnere mich an gewisse Eindrücke, die ich von Murgon hatte und damals verdrängt habe – vielleicht zu Unrecht. Und meines Vaters Schwester – Königin Ashen – würde sich nicht so verhalten, wie du mir erzählt hast. Sie ist so stoisch, so stark, sie würde nicht hysterisch werden und sich und ihr Kind von ihrem Ehemann getrennt einschließen. Ich schwöre dir, wenn du Ashen kennen würdest …« Er unterbrach sich und runzelte die Stirn. »Ich habe das Gefühl, dass Monsea etwas damit zu tun hat. Ich weiß nicht, ob mir das meine Gabe sagt oder mein Instinkt.

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