Die Beschenkte
Stimme nicht unterdrücken.
»Und zu welchem Zweck stehen all diese Männer hier, Onkel?«
Randa lächelte ausdruckslos. »Diese Männer werden dich bei der geringsten Bewegung angreifen. Und am Ende dieses Verhörs werden sie dich in meinen Kerker begleiten.«
»Und glauben Sie, dass ich freiwillig in Ihren Kerker gehe?«
»Mir ist gleichgültig, ob du freiwillig gehst oder nicht.«
»Weil Sie glauben, diese Männer könnten mich dazu zwingen, gegen meinen Willen zu gehen.«
»Katsa! Natürlich haben wir alle die größte Hochachtung vor deiner Gabe. Doch selbst du hast keine Chance gegen zweihundert Wachmänner und meine besten Bogenschützen. Am Ende dieses Gesprächs bist du in meinem Kerker oder tot.«
Katsa sah und hörte alles im Raum. Den König und seine Bogenschützen, die aufgelegten Pfeile, die Wachmänner, kampfbereit mit ihren Schwertern, ihren Händen in roten Ärmeln, ihren Füßen unter roten Röcken. Im Raum war es still, vollkommen still bis auf den Atem der Männer rundum und das Kribbeln, das sie in sich spürte. Sie hielt die Hände an den Seiten, vom Körper weggestreckt, so dass jeder sie sehen konnte. Sie atmete um etwas herum, das sie jetzt als Hass erkannte. Sie hasste diesen König. Ihr Körper vibrierte von diesem Hass.
»Onkel!«, sagte sie. »Lassen Sie mich erklären, was in dem Moment geschehen wird, in dem einer Ihrer Männer die Hand gegen mich erhebt oder einer Ihrer Bogenschützen einen Pfeil fliegen lässt. Sie waren nicht bei meinen Kampfübungen, Onkel. Sie haben nicht gesehen, wie ich Pfeilen ausweiche, Ihre Bogenschützen aber schon. Wenn einer IhrerSchützen einen Pfeil losschickt, werfe ich mich auf den Boden. Der Pfeil wird zweifellos einen ihrer Wachleute treffen. Das Schwert und der Dolch dieses Wachmanns werden in meinen Händen sein, bevor auch nur einer im Raum Zeit hat zu begreifen, was geschieht. Ein Kampf mit den Wachmännern wird ausbrechen, doch nur sieben oder acht von ihnen können mich gleichzeitig angreifen, Onkel, und sieben oder acht sind gar nichts für mich. Während ich die Wachmänner töte, werde ich ihre Dolche nehmen und sie in die Herzen Ihrer Bogenschützen werfen, die mich natürlich nicht mehr sehen, sobald der Kampf mit den Wachen ausgebrochen ist. Ich werde lebend aus dem Raum kommen, Onkel, aber die meisten Übrigen werden tot sein. Natürlich wird das alles nur geschehen, wenn ich warte, bis einer von Ihren Männern sich bewegt. Ich könnte mich auch zuerst bewegen. Ich könnte einen Wachmann angreifen, ihm seinen Dolch entreißen und ihn im selben Moment in Ihre Brust schleudern.«
Randas Mund war spöttisch verzogen, doch unter dieser Maske hatte er angefangen zu zittern. Das war eine Todesdrohung, ausgesprochen und verstanden; Katsa spürte es in ihren Fingerspitzen. Und sie sah, dass sie es jetzt tun könnte, sie könnte ihn sofort töten. Die Verachtung würde aus seinem Blick verschwinden, sein Grinsen würde verrutschen. Ihre Finger juckten, denn jetzt könnte sie es mit einem Dolchwurf beenden.
Und was dann? , flüsterte eine schwache Stimme in ihr, und Katsa hielt betroffen den Atem an. Und was dann? Ein Blutbad, eins, dem sie entkommen konnte. Raffin würde König werden, und sein erstes Erbe wäre die Aufgabe, die Mörderin seines Vaters zu töten. Dieser Aufgabe konnte er sich nichtentziehen, wenn er als König der Middluns gerecht regieren wollte, und diese Aufgabe würde ihm das Herz brechen und sie zu einer Feindin und einer Fremden machen.
Und Bo würde bei seiner Abreise davon hören. Er würde erfahren, dass sie die Beherrschung verloren und ihren Onkel getötet hatte, dass sie ihr eigenes Exil begründet und Raffins Lebenskraft gebrochen hatte. Bo würde nach Lienid zurückkehren und von seinem Balkon aus zuschauen, wie die Sonne hinter dem Meer versank, und er würde in dem orangefarbenen Licht den Kopf schütteln und sich fragen, warum sie all das hatte geschehen lassen, obwohl sie so viel Macht in Händen hielt.
Wo ist dein Glaube an deine Macht? , flüsterte die Stimme jetzt. Du musst kein Blut vergießen. Und Katsa sah, was sie hier im Thronsaal tat. Sie sah den bleichen Randa, wie er die Armlehnen seines Throns so fest umkrampfte, dass es aussah, als würde er sie zerbrechen. Im nächsten Moment würde er seinen Bogenschützen den Schießbefehl geben, aus Angst, weil er es nicht aushalten konnte, auf ihren ersten Schritt zu warten.
Tränen traten ihr in die Augen. Gnade war beängstigender als Mord, weil
Weitere Kostenlose Bücher