Die Beschenkte
ich …«
Er hob die Hand. »Das ist nur gerecht. Wenn wir kämpfen, hältst du deine Gabe zurück. Ich kann meine Gabe nicht zurückhalten. Deshalb musst du das Recht haben, dich zu verteidigen.«
Das gefiel ihr nicht. Aber sie verstand seine Argumente. Und sie verstand, dass er bereit war, seine Gabe bei ihr nicht einzusetzen. »Du bekommst davon immer Kopfschmerzen«, warnte sie.
»Vielleicht hat uns Raffin auch sein Heilmittel gegen Kopfweh mitgegeben. Ich würde gern meine Haarfarbe ändern, nachdem du deine Frisur geändert hast. Blau würde mir doch stehen, meinst du nicht?«
Wieder lachte sie und schwor sich, ihn nicht zu schlagen, niemals, außer wenn sie ganz verzweifelt wäre. Und dann brannte die Kerze neben ihnen auf dem Boden herunter und ging aus. Sie waren vom Thema abgekommen. Frühmorgens würden sie sehr wahrscheinlich nach Monsea abreisen, es war mitten in der Nacht und alle im Gasthof und in der Stadt schliefen; doch sie saßen hier auf dem Boden und lachten im Dunkeln.
»Reiten wir morgen nach Monsea?«, fragte sie. »Wir werden auf unseren Pferden einschlafen.«
»Ich werde auf meinem Pferd einschlafen. Du wirst reiten, als hättest du tagelang geschlafen – als wäre es ein Rennen zwischen uns, wer zuerst Monsea erreicht.«
»Und was werden wir dort finden? Einen König, der keine Schuld an den Dingen trägt, die er verschuldet hat?«
Bo rieb sich den Kopf. »Ich fand es immer merkwürdig, dass meine Mutter und mein Vater keinen Verdacht gegenüber Leck hegen, obwohl sie seine Geschichte kennen. Und jetzt scheinen diese Männer ihn für schuldlos an der Entführung zu halten, obwohl sie wissen, dass er das nicht ist.«
»Könnte er in allen anderen Bereichen seines Lebens so gütig sein, dass jeder ihm seine Verbrechen vergibt oder gar nicht erst sieht?«
Einen Moment saß er still da. »Ich habe mich gefragt – es ist ein ganz neuer Gedanke –, ob er ein Beschenkter sein könnte. Ob er eine Gabe haben könnte, die beeinflusst, was Leute von ihm halten. Gibt es eine solche Gabe? Noch nicht einmal das weiß ich.«
Der Gedanke war ihr nie gekommen. Aber er könnte tatsächlich ein Beschenkter sein mit seinem fehlenden Auge. Er könnte beschenkt sein, und niemand würde es merken. Niemand würde ihn verdächtigen, denn wer könnte eine Gabe erahnen, die Verdächtigungen kontrolliert?
»Er könnte die Gabe haben, Menschen zu täuschen«, sagte Bo. »Die Gabe, Menschen mit Lügen zu verwirren, Lügen, die von Königreich zu Königreich verbreitet werden. Stell dir vor, Katsa, Menschen würden seine Lügen in die Welt tragen und sie vor gläubigen Ohren ausbreiten; absurde Lügen, die Logik und Wahrheit widersprechen, bis nach Lienid. Kannst du dir die Macht vorstellen, die ein Mensch mit einer solchen Gabe hätte? Er könnte sich selbst jeden Ruf verschaffen, den er sich wünscht. Er könnte sich nehmen, was er will, und niemand würde ihn dafür verantwortlich machen.«
Katsa dachte an den Jungen, der zum Erben ernannt worden war, und an den König und die Königin, die kurz danach starben. Dann an die Ratgeber, die angeblich gemeinsam in den Fluss sprangen. Und ein ganzes Königreich von Trauernden, die nie daran dachten, den Jungen in Frage zu stellen, den König ohne Familie und ohne Hintergrund und ohne Monsea-Blut in den Adern. »Aber seine Güte«, gab Katsa zu bedenken. »Die Tiere. Dieser Mann hat von den Tieren erzählt, die Leck gesund pflegt.«
»Das kommt noch dazu«, sagte Bo. »Dieser Mann glaubte wirklich an Lecks Wohltätigkeit. Bin ich der Einzige, der es ein wenig seltsam findet, dass es so viele aufgeschlitzte Hunde und Eichhörnchen in Monsea gibt, die gerettet werden müssen? Sind die Bäume und Steine dort aus Glasscherben?«
»Aber er ist ein gütiger Mann, der sich um sie kümmert.«
Bo warf Katsa einen seltsamen Blick zu. »Du verteidigst ihn auch, entgegen jede Logik, genau wie meine Eltern und diese Händler. Er hat Hunderte von Tieren mit bizarren Schnitten, die nicht heilen, Katsa, und er hat Kinder in seinen Diensten, die an geheimnisvollen Krankheiten sterben, und du schöpfst nicht den geringsten Verdacht.«
Er hatte Recht. Katsa sah die Wahrheit in all ihrer Grausamkeit. Sie begann, eine Vorstellung zu bekommen von einer Macht, die sich ausbreitete wie eine Krankheit, und alle Menschen infizierte, die damit in Berührung kamen.
Konnte es eine gefährlichere Gabe geben als diese, die jede Klarheit durch einen trügerischen Nebel
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