Die Beschenkte
darüber, dass es einen Menschen gab, der ihr Hilfe und Schutz bieten konnte. Das wäre Arroganz, und sie sah ein, dass Arroganz Dummheit war, dass sie nach Bescheidenheit streben sollte – das war eine weitere Sache, bei der Bo ihr geholfen hatte. Ihm hatte sie zu verdanken, dass sie über Bescheidenheit nachdachte. Aber das war es nicht. Ihre Wut hatte damit zu tun, dass sie um niemanden gebeten hatte, dem sie vertraute, für den sie so vieles tun, so vieles geben würde. Dass sie um niemanden gebeten hatte, dessen Abwesenheit sie ängstigen würde, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte – nicht weil ihr dann sein Schutz fehlte, sondern einfach weil sie seine Gesellschaft wollte. Sie hatte um niemanden gebeten, dessen Gesellschaft sie sich wünschte.
Katsa konnte ihre eigene Albernheit nicht ertragen. Sie zog sich in einen Panzer aus Missmut zurück und verjagte jeden Gedanken, der ihr in den Sinn kam.
Als sie neben einem vom Regenwasser angeschwollenen See anhielten, damit sich ihre Pferde ausruhen konnten, lehnte er sich an einen Baum und aß ein Stück Brot. Ruhig, schweigend beobachtet er sie. Katsa schaute nicht zu ihm hinüber, doch sie war sich bewusst, dass sein Blick auf ihr, immer auf ihr lag. Nichts machte sie wütender als die Art, wie er sich an den Baum lehnte, Brot aß und sie mit diesen leuchtenden Augen beobachtete.
»Was starrst du denn so?«, fragte sie schließlich.
»Dieser See ist voller Fische«, sagte er, »und Frösche. Welse,Hunderte von ihnen. Findest du es nicht komisch, dass ich das so sicher weiß?«
Sie könnte ihn schlagen für seine Ruhe und seine neue Fähigkeit, Welse zu zählen, die er nicht sehen konnte, und Frösche, und für diese irritierenden Augen. Sie ballte die Fäuste, drehte sich um und zwang sich wegzugehen. Fort von der Straße, an den Bäumen vorbei, und dann rannte sie durch den Wald und scheuchte Vögel auf. Sie lief an Bächen, Farnbüschen und Mooshügeln vorbei. Sie stürmte auf eine Lichtung mit einem Wasserfall, der über Felsen schoss und in einen See stürzte. Dort riss sie sich die Stiefel von den Füßen, zog ihre Sachen aus und sprang ins Wasser. Sie schrie über die Kälte, die ihren Körper plötzlich umgab, und das Wasser drang ihr in Nase und Mund. Als sie auftauchte, hustete und prustete sie, ihre Zähne klapperten. Sie lachte darüber und sprang ans Ufer.
Und jetzt, als sie im Schlamm stand und jedes Haar ihres Körpers sich vor Kälte sträubte, war sie ruhig.
Als sie zu Bo zurückkehrte, abgekühlt und klar im Kopf, geschah es. Er saß am Baum, die Knie gebeugt, den Kopf in den Händen, die Schultern zusammengesackt, müde und unglücklich. Bei seinem Anblick spürte sie etwas Sanftes in ihrer Kehle. Und dann hob er den Kopf und schaute sie an, und sie sah, was sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr stockte der Atem.
Seine Augen waren wunderschön. Sein Gesicht erschien ihr mit jedem seiner Züge wunderschön, ebenso seine Schultern und seine Hände. Und die Arme, die auf seinen Knien lagen, und seine Brust, die sich nicht bewegte, weil er den Atem anhielt, während er sie betrachtete. Und das Herz in seiner Brust. Dieser Freund! Wie hatte sie das zuvor nicht sehen können? Wie hatte sie ihn nicht sehen können? Sie war blind gewesen. Und dann stiegen ihr Tränen in die Augen, denn darum hatte sie nicht gebeten. Sie hatte nicht um diesen schönen Mann vor sich gebeten, mit einer Hoffnung in den Augen, die sie nicht wollte.
Er stand auf, und ihre Beine zitterten. Sie legte die Hand auf ihr Pferd, um sich ruhig zu halten.
»Ich will das nicht«, sagte sie.
»Katsa! Ich hatte es auch nicht geplant.«
Sie umklammerte die Kanten ihres Sattels, damit sie sich nicht zwischen die Beine ihres Pferdes auf den Boden setzte.
»Du hast eine Art, meine Pläne durcheinanderzubringen …«, sagte er, und sie schrie auf, sank auf die Knie und stemmte sich wütend wieder hoch, bevor er kommen, ihr helfen und sie berühren konnte.
»Steig auf«, sagte sie, »sofort. Wir reiten weiter.«
Sie schwang sich auf ihr Pferd und ritt davon, ohne sich zu überzeugen, dass er ihr folgte. Sie ritten dahin und sie erlaubte nur einem Gedanken, sich immer wieder in ihrem Kopf zu wiederholen: Ich will keinen Ehemann. Ich will keinen Ehemann. Sie passte den Satz dem Rhythmus der Pferdehufe an. Und wenn Bo ihre Gedanken kannte, umso besser.
Als sie am späten Abend anhielten, redete sie nicht mit ihm, konnte aber auch nicht so tun, als wäre er nicht da. Sie
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