Die Beschützerin
Kälte aus. Es kann ihr doch nicht egal sein, dass ich fortgehe. »Mama?«, rufe ich lauter. Nebenan steckt Frau Bauer den Kopf zum Fenster heraus. »Ich habe sie vorhin weggehen sehen. Ich glaube, sie wollte zum Friseur.« Ich kämpfe mit den Tränen. »Bitte sagen Sie ihr einen lieben Gruà von mir.« Frau Bauer nickt. »Viel Glück, Janne. Hast du dir das auch gut überlegt mit dem Studieren? So weit weg willst du â¦Â«
»Frau Amelung?« Vanessa Ott sah mich an. »So tief in Gedanken?«
»Nein, ich â¦Â« Eigentlich wollte ich sagen, dass ich auch an meine Mutter denken musste, aber das kam mir taktlos vor nach dem, was Vanessa Ott erlebt hatte. Was für ein merkwürdiges Gespräch das mit ihr war. Ich hatte mir ein wenig beruflichen Smalltalk vorgestellt, stattdessen sprachen wir über intimste Dinge. Auch jetzt sah sie mich an, als wolle sie mich durchleuchten. Ich war froh, dass in diesem Moment die Kellnerin mit dem Essen kam.
»Ich sehe schon, dieser Kram aus der Vergangenheit macht uns nur schlechte Laune. Also los, Themenwechsel.« Vanessa Ott nahm ihr Glas. »Wie ist es mit der Arbeit? Sind Sie gern bei Alfa.Sat?«
»Sehr gern.« Ich atmete auf und begann, von meiner Abteilung und unseren Projekten zu erzählen. Anfang des Jahres hatte ich eines der Waisenhäuser besucht, die wir mit den Spenden unterstützten. Es hatte mich glücklich gemacht, mit eigenen Augen zu sehen, wie das Geld für die Kinder eingesetzt wurde. Sie bekamen Bücher und Kleider geschenkt. Und Möbel für ihr Klassenzimmer. Meine Arbeit machte mir nicht nur sehr viel SpaÃ, sondern war auch noch sinnvoll und wichtig. Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen. Mir wurde bewusst, wie sehr ich leiden würde, sollte ich diesen Job verlieren. Und wie einen Messerstich spürte ich Angst. Die Frau, mit der ich hier unbefangen plauderte, war an der Entscheidung darüber beteiligt. Vielleicht musste ich viel mutiger sein und sie ganz offen fragen, was sie über den Smiling Kids Day dachte? Doch während ich sprach, spielte Vanessa Ott mit ihrem Handy, betrachtete das Display. Sie war so offensichtlich nicht bei der Sache, dass es mich verunsicherte.
»Ganz schön turbulent, Ihr Leben. So viele Events und Termine. Bleibt Ihnen da noch Zeit für Freundschaften? Für eine Beziehung?«, fragte sie unvermittelt.
Wieder das Privatleben. Ich zögerte, dachte an Gregor.
»Also, richtig in Ruhe sehen mein Freund und ich uns nur am Wochenende«, sagte sie.
»Bei uns ist es auch nicht besser.«
»Meiner wohnt in München.« Vanessa pikste mit der Gabel im Gemüse herum. Bisher hatte sie kaum etwas gegessen. »Er arbeitet bei einer internationalen Werbeagentur. Ich weià nicht, wer von uns mehr reisen muss. Diesmal hab ich ja Glück, einen Auftrag in Berlin zu haben. Es ist so angenehm, abends in die eigenen vier Wände zu kommen. Inzwischen hasse ich Hotels, egal, welchen Standard sie besitzen.« Sie nahm eine Gabel mit fünf Reiskörnern und schob sie in den Mund. »Was macht denn Ihr Freund beruflich? Ist er auch beim Fernsehen? Bitte sagen Sie es mir, wenn ich zu neugierig bin.«
»Nein, kein Problem. Er ist Möbelrestaurator.«
»Oh, wirklich? Ein Handwerker? Ich finde ja Männer toll, die praktisch veranlagt sind. Hat er ein Geschäft?«
»Eine kleine Werkstatt mit Ladenlokal.«
»Ich habe zu Hause einen alten Tisch. Der hat so eine Schellackoberfläche, die ich mal neu aufpolieren lassen müsste. Wie heiÃt denn Ihr Freund? Vielleicht könnte er das machen.«
»Gregor Behrendt.« Gregor würde sich über den Auftrag freuen, doch aus irgendeinem merkwürdigen Grund gefiel mir die Idee nicht, dass Vanessa Ott und er sich kennenlernten. Weil sie hübsch und faszinierend war? Sofort kam ich mir albern vor. »Soll ich Ihnen mal die Nummer geben?«
Ihre Hände spielten mit dem Wasserglas. »Ach nein, wenn ich so darüber nachdenke ⦠Ich glaube, das ist nicht nötig. Vermutlich lohnt es sich nicht, in das alte Ding noch Geld reinzustecken. Ich kaufe mir lieber einen neuen Tisch.«
Vanessa Ott hatte sich ein Taxi rufen lassen, und ich versuchte, während der Autofahrt nach Hause Gregor zu erreichen. Es war schon bald halb zehn. Er ging weder an sein Handy noch an die Festnetznummern bei ihm oder bei mir in der Wohnung. Bei dem Gespräch mit
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