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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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näherte sich jetzt ebenfalls, sie sah Séverine mit ihren großen Augen fest an und sagte endlich:
    »Kommen Sie, ich werde Sie tragen.«
    Ehe Séverine noch zugestimmt, hatte Flore sie bereits mit ihren kraftstrotzenden Männerarmen umfaßt und wie ein kleines Kind hochgehoben. Sie setzte sie jenseits der Schienen auf einer freigewehten Stelle ab, an der die Füße nicht versanken. Die Reisenden lachten höchst erstaunt über dieses Wunder. Das war ein Mädchen! Ein Dutzend solcher und der Weg wäre früher als in zwei Stunden frei gewesen.
    Das Gerücht von dem Vorschlage Misard’s, daß man in das Haus des Bahnwärters flüchten konnte und dort voraussichtlich Feuer, vielleicht Brod und Wein finden würde, pflanzte sich von einem Waggon zum andern fort; die Panik hatte sich gelegt, als man begriffen, daß eine unmittelbare Gefahr nicht vorläge. Nichtsdestoweniger blieb die Lage eine höchst kritische: die Heizungen kühlten ab, es war neun Uhr, man bekam Hunger und Durst, auch ließ die Hilfe sehr auf sich warten. Das konnte ewig dauern, wer weiß, ob man nicht hier auch noch würde übernachten müssen. Es bildeten sich zwei Lager, die einen, die ganz verzweifelten, wollten ihre Koupees garnicht verlassen, sondern sich mit verbissener Wuth auf die Polster ausstrecken, sich fest einhüllen und so den Tod erwarten; die anderen wollten den Weg durch den Schnee wagen, in der Hoffnung, es dort besser zu finden und namentlich, um dem niederdrückenden Gefühl angesichts dieses gescheiterten, eingefrorenen Zuges zu entfliehen, es bildete sich eine Gruppe; zu ihr gehörten der alte Kaufmann mit seiner jungen Frau, die Engländerin mit ihren zwei Töchtern, der junge Mann aus Havre, der Amerikaner und vielleicht noch zehn Andere. Sie machten sich marschfertig.
    Jacques hatte Séverine ebenfalls zum Fortgehen bewogen. Ganz leise hatte er ihr versprochen, sobald er abkommen könnte, ihr Nachricht zu geben. Als Flore sie noch immer mit ihren düstern Augen anstarrte, hatte er wie ein alter Freund gemüthlich zu ihr gesagt:
    »Also abgemacht. Du wirst diese Damen und Herren zu Euch führen … Ich behalte Misard und die Uebrigen hier.Wir wollen sehen, was wir schaffen können, bis die Andern kommen.«
    Cabuche, Ozil und Misard griffen zu den Schaufeln und schlossen sich Pecqueux und dem Zugführer an, die bereits den Schnee bearbeiteten. Die kleine Mannschaft bemühte sich zunächst, die Lokomotive frei zu machen, sie schaufelte den Schnee unter den Rädern hervor und warf ihn über die Böschung. Niemand sprach mehr, man hörte nur das schweigsame Hasten inmitten des düstern Schweigens der weißen Landschaft. Als der kleine Trupp der Reisenden abmarschirte, warf man noch einen letzten Blick auf den Zug, der wie ein dünner schwarzer Faden aus der dichten, ihn erstickenden weißen Hülle hervorragte. Man hatte die Thüren geschlossen, die Scheiben hochgezogen. Stumm und bewegungslos stand er wie todt da. Noch immer fiel der Schnee mit einer stummen Hartnäckigkeit und hüllte ihn langsam und sicher ein.
    Flore hatte Séverine abermals in ihre Arme nehmen wollen. Aber diese hatte es ausgeschlagen, sie wollte, wie die Anderen, zu Fuß gehen. Die dreihundert Meter wurden nicht ohne Mühe zurückgelegt: in der Schlucht namentlich sank man mehrfach bis zu den Achselhöhlen ein, zweimal mußte zur Rettung der halb untergegangenen dicken Engländerin geschritten werden. Ihre Töchter lachten unentwegt. Die junge Frau des alten Herrn, mußte sich bequemen, als sie ausglitt, die Hand des jungen Mannes aus Havre zu nehmen, während ihr Gatte mit dem Amerikaner über Frankreich herzog. Als man die Schlucht hinter sich hatte, wurde der Weg weniger beschwerlich. Man ging über eine Anhöhe, die kleine Gesellschaft schritt im Gänsemarsch. Der Wind drohte sie herunterzuwerfen und sie vermied sorgfältig die unter dem Schnee doppelt gefährlichen und trügerischen Kanten. Endlich war man zur Stelle, Flore brachte die Reisenden in der Küche unter; aber nicht Jedem konnte ein Sitz eingeräumt werden, denn wohl an zwanzig Menschen bewegten sich in dem ziemlich geräumigen Gemach. Erfindungsreich holte sie Bretter herbei und formte mit Hilfe der Stühle schnell zwei Bänke zurecht. Einige Hand voll Holz warf sie auf das Feuer, dann machte sie eine Bewegung, die ausdrücken sollte, daß sie nun alles gethan habe, was sie habe thun können. Sie hatte bei alledem kein Wort gesprochen, mit ihren grünlich schimmernden,weit geöffneten Augen

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