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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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putzte ihre Gläser. Sein Herz schlug heftig, er spürte die Kälte nicht mehr; doch plötzlich erinnerte er sich der tiefenSchlucht, die sich ungefähr dreihundert Meter vor la Croix-de-Maufras befand; dieselbe öffnete sich genau in der Windrichtung, dort mußte sich eine Unmasse Schnee aufgehäuft haben. Dort war die Klippe, an der er nach seiner Ueberzeugung zweifellos stranden mußte. Er beugte sich hinaus. Hinter der nächsten Kurve erschien dieser Engpaß wie ein mit Schnee gefüllter, geradliniger Graben. Es war jetzt heller Tag und fortwährend noch sanken die Flocken auf dieses grenzenlose, schimmernde Weiß hernieder.
    Mit mittlerer Geschwindigkeit rollte jetzt die Lison dahin, da sie kein besonderes Hinderniß vor sich hatte. Man hatte vorsichtiger Weise die vorderen und die Schlußlaternen brennen lassen und das weiße Leuchtfeuer der Maschine schimmerte wie ein Cyklopenauge bleich in den Tag hinein. Mit diesem offenen Auge näherte sie sich jetzt jener Schlucht. Die Lison schien jetzt kurz und stoßweise zu athmen, wie ein sich fürchtendes Pferd. Starke Erschütterungen suchten sie heim, sie scheute und setzte ihre Fahrt nur unter der geschickten Hand ihres Führers fort. Dieser hatte abermals die Thür zur Feuerung öffnen lassen, damit der Heizer das Feuer lebhafter entfachen konnte. Und jetzt war es nicht mehr ein feuriger Sternschweif der Nacht, sondern ein Wirbel von dichtem, tiefschwarzem Rauch, der den bleichen Schauer am Himmel befleckte.
    Die Lison fuhr weiter. Jetzt war sie am Eingang zur Schlucht. Links und rechts waren die Böschungen völlig vergraben und die Geleise vollständig verweht. Die Schlucht glich einem von einem milden Strome ausgehöhlten, bis an den Rand mit Schnee gefüllten Loche. Noch fünfzig Meter weit rollte die Maschine athemlos, langsamer und langsamer dort hinein. Der Schnee, den sie fortstieß, bildete bald eine Barrikade um sie her, eine empörte Fluth, die sie zu verschlingen drohte. Einen Augenblick schien sie aus den Schienen gehoben, besiegt zu sein. Aber noch einmal strengte sie ihre Muskeln an und rollte noch dreißig Meter vorwärts. Doch das war das Ende, der letzte Todeskampf gewesen. Die Schneemassen fielen vornüber, begruben die Räder und alle Theile des Mechanismus, um die sich schon vorher Ketten von Eis geschlungen hatten. Jetzt hielt die Lison ganz still und hauchte in der großen Kälte ihren letzten Athem aus. Er erlosch und unbeweglich, todt stand sie da.»Da haben wir es«, meinte Jacques, »ich habe es ja vorausgesehen.«
    Er wollte sofort die Lokomotive wieder rückwärts gehen lassen, um das Manöver noch einmal zu versuchen, aber diesmal rührte sich die Lison nicht mehr vom Fleck. Sie weigerte sich, vorwärts wie rückwärts zu fahren, von allen Seiten eingeschlossen blieb sie träge und stumpfsinnig, wie festgenagelt am Boden stehen. Auch der Zug hinter ihr, der bis an die Thüren im Schnee steckte, schien wie ausgestorben. Der Schneefall hörte nicht auf, sondern trieb noch dichter als zuvor, in langen Streifen vom Sturme hier hereingepeitscht. Maschine und Waggons, die schon halb bedeckt waren, mußten bald ganz verschwinden, es war wie ein großes Einsargen in der überwältigenden Stille dieser weißen Einöde. Nichts rührte sich mehr, der Schnee breitete sein Leichentuch aus.
    »Schon wieder?« fragte der Zugführer und beugte sich aus dem Gepäckwagen.
    »Futsch!« erwiederte Pecqueux lakonisch.
    Diesmal war die Lage in der That eine höchst kritische. Der Lokomotivführer pfiff in kurzen Intervallen den jämmerlichen Klageton der Einöde. Aber der Schnee fing den sich verlierenden Schall auf, der in Folge dessen in Barentin nicht gehört werden konnte. Was thun? Sie waren nur vier Mann, wie hätten sie jemals solche Unmassen bewältigen können. Hier wäre ein ganzes Personal nöthig gewesen. Es war eine dringende Notwendigkeit, Hilfe herbeizuschaffen. Das Schlimmste war, daß unter den Reisenden eine abermalige Panik ausbrach.
    Ein Schlag öffnete sich, die hübsche Brünette sprang aus dem Waggon, denn sie glaubte, es wäre ein Unglück geschehen. Der ihr nachfolgende betagte Kaufmann schrie:
    »Ich werde dem Minister schreiben. Es ist eine Schande!«
    Das Jammern der Frauen, wüthende Männerstimmen drangen aus allen Gelassen, deren Scheiben herunterrasselten. Nur die beiden kleinen Engländerinnen lächelten höchst vergnügt. Als der Zugführer alle Welt zu beruhigen suchte, fragte ihn die Jüngere auf Französisch, aber mit

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