Die Bestie im Menschen
wiederholen, mein Herr, daß wir in drei Minuten weiterfahren werden.«
Die Kälte war unerträglich, der Schnee flog in die offenen Koupees, die Köpfe verschwanden, die Scheiben wurden hochgezogen. Doch merkte man an dem dumpfen Gesumm, welche Angst und Bewegung in den geschlossenen Räumenherrschten. Nur zwei Scheiben blieben gesenkt. Ein Amerikaner von einigen vierzig Jahren lehnte aus einem Fenster und sprach mit einem von ihm durch drei Koupees getrennten jungen Menschen aus Havre sehr interessirt über die Befreiungsarbeiten.
»In Amerika steigt Jedermann aus und greift zu den Schaufeln.«
»O, das hier hat nichts zu sagen. Im vorigen Jahre saß ich zweimal ebenso fest. Mein Beruf zwingt mich, alle acht Tage nach Paris zu reisen,«
»Und mich beinahe alle drei Wochen, mein Herr.«
»Wie, von New-York?«
»Ja, mein Herr, von New-York.«
Jacques leitete die Arbeit. Er hatte Séverine an der Thür des vordersten Waggons bemerkt, in welchem sie sich immer einquartirte, um ihm so nahe als möglich zu sein. Er hatte ihr einen bittenden Blick zugeworfen; sie verstand, daß sie sich nicht diesem eisigen Winde aussetzen sollte, der ihr in das Gesicht schnitt, und zog sich zurück. Er dachte nur an sie und arbeitete flott darauf los. Er bemerkte jetzt, daß der Grund des Stillstandes, das Festfahren im Schnee nicht von den Rädern herrührte –die hätten auch die dicksten Lagen durchschneiden können -, sondern von dem zwischen ihnen hängenden Aschkasten, vor welchem sich mächtige Schneebündel aufgesackt hatten. Es kam ihm ein Gedanke.
»Der Aschkasten muß abgeschraubt werden.«
Der Zugführer widersetzte sich zunächst. Der Lokomotivführer stand unter seinen Befehlen und er wollte nicht erlauben, daß etwas an der Maschine geändert würde. Schließlich ließ er sich überzeugen.
»Gut, aber Sie übernehmen die Verantwortlichkeit.«
Das war ein schwieriges Geschäft. Lang ausgestreckt unter der Lokomotive und mit dem Rücken tief im Schnee mußten Jacques und Pecqueux fast eine halbe Stunde lang fleißig arbeiten. Zum Glück waren im Werkzeugkasten auch Schraubenzieher vorräthig. Endlich, nachdem sie an zwanzig Male Gefahr gelaufen, sich zu verbrennen oder zerschmettert zu werden, hatten sie den Aschkasten losgeschraubt. Nun steckte er aber noch immer unter der Maschine fest. Er war von enormem Gewicht und aus den Rädernund Cylindern nicht herauszubekommen. Sie faßten schließlich zu vieren an und schleppten ihn über die Schienen fort bis auf die Böschung.
»Jetzt vorwärts mit Schaufeln!« sagte der Zugführer.
Fast eine volle Stunde schon saß der Zug in dieser Einöde fest und die Angst der Reisenden war gestiegen. Alle Minuten senkte sich eine Scheibe und irgend wer fragte, warum man nicht weiterfahre? Unter Geschrei und Thränen brach eine wahre Panik aus, die Krisis der Angst stieg auf den Gipfel.
»Es ist jetzt genug fortgeschaufelt,« erklärte Jacques. »Steigen Sie nur ein, das Uebrige werde ich besorgen.«
Er stand mit Pecqueux abermals auf seinem Posten, und als die beiden Schaffner ihre Plätze wieder eingenommen hatten, drehte er selbst den Hahn der Ableitungsröhren auf. Der mit Zischen herausfahrende heiße Dampf vernichtete vollends die noch an den Rädern hängenden Schneemassen. Er drehte dann die Kurbel und ließ die Lokomotive rückwärts gehen. Langsam rückte der Zug an dreihundert Meter zurück, um Spielraum zu haben. Das Feuer wurde so geschürt, daß der erlaubte Druck überschritten wurde, dann drängte er die Lison mit ihrem ganzen Gewicht und dem des an ihr hängenden Zuges gegen die den Weg sperrende Mauer. Es gab einen Krach, wie wenn ein Holzhauer seine Axt mit fürchterlicher Gewalt in einen Baum treibt, die eisernen und gußeisernen Glieder der Lokomotive schienen zu bersten. Und doch sprengte sie nicht das Hinderniß, rauchend und von dem Stoße erbebend saß sie wieder fest. Noch zweimal mußte das Manöver wiederholt werden, zweimal noch wich sie zurück und bohrte sie sich wieder in den Schnee. Und jedesmal erzitterten ihre Glieder, wenn sie mit ihrem Athem eines wuthschnaubenden Riesen die Brust auf das Hinderniß drängte. Jetzt schien sie Luft zu schöpfen, ihre metallenen Muskeln spannten sich zu einer letzten Kraftanstrengung an und sie passirte die Stelle; schwerfällig schob sich der Zug hinterdrein durch die beiden durchfurchten Schneemauern.
»Ein gutes Thier trotz alledem!« brummte Pecqueux.
Jacques nahm, halb geblendet, seine Brille ab und
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