Die Bestie im Menschen
wohl wieder stehen können … Das nächste Mal soll es ihm wohl schwer werden, mich so zu kneifen. Ich bin neugierig, wie er das anfangen würde. Gelingt es ihm, mir wieder das Gift einzuflößen, dann ist es auch ein stärkeres und ich bin fertig … Man darf gar nicht daran denken.«
Jacques war der Meinung, die Kranke plage ihr Gehirn viel zu sehr mit diesen schwarzen Vorstellungen. Um sie zu zerstreuen, wollte er sie etwas necken. Doch plötzlich begann sie unter der Bettdecke heftig zu zittern.
»Er ist da,« flüsterte sie. »Ich fühle es sofort, wenn er kommt.«
Richtig, einige Sekunden später trat Misard in die Stube.
Sie war bleich geworden, eine Beute des unfreiwilligen Schreckens, den Riesen vor sie benagenden Insecten empfinden. Ihre Hartnäckigkeit, sich allein seiner zu erwehren, hatte in ihr eine wachsende von ihr aber nicht zugestandene Furcht gezeitigt. Misard, welcher gleich beim Eintritt sie und Jacques mit einem aufleuchtenden Blick gestreift hatte, schien gleich darauf gar nicht zu bemerken, daß sie Seite an Seite saßen. Mit demüthigen Blicken, den Mund eingekniffen und mit dem Ausdruck eines gehorsamen Knechtes erschöpfte er sich vor Séverine in Höflichkeiten.
»Ich habe geglaubt, die gnädige Frau wolle bei dieser Gelegenheit ihren Besitz ein wenig in Augenschein nehmen, deshalb bin ich auf einen Augenblick hierher gekommen … Die gnädige Frau wünschen vielleicht, daß ich Sie begleite.«
Als die junge Frau abermals das Anerbieten ablehnte, fuhr er mit seiner Dulderstimme fort:
»Die gnädige Frau ist vielleicht erstaunt gewesen wegen der Früchte … Sie waren alle wurmstichig, es hätte sich nicht gelohnt, sie zu verpacken … Dann hat auch der Windviele abgeworfen … Schade, daß die gnädige Frau nicht verkaufen kann! Es war einmal ein Herr hier, der jedoch alles erst ausgebessert sehen wollte … Ich stehe also der gnädigen Frau vollständig zur Verfügung, gnädige Frau können überzeugt sein, daß ich Ihre Interessen nach allen Richtungen wahre.«
Dann wollte er ihr durchaus Brod und Birnen und zwar aus seinem eigenen Garten, die natürlich nicht wurmstichig waren, anbieten. Sie nahm sie an.
Als Misard durch die Küche schritt, hatte er den Reisenden gemeldet, das die Arbeiten gut von statten gingen, aber wohl noch vier bis fünf Stunden dauern würden. Es hatte eben zwölf geschlagen und das Lamento ging von Neuem los. Man fühlte starken Hunger. Flora erklärte, daß sie nicht genug Brod für Alle im Hause hätte. Wein dagegen besaß sie. Sie hatte zehn Liter aus dem Keller geholt und auf den Tisch gestellt. Aber Gläser fehlten: man mußte gruppenweise trinken, die Engländerin mit ihren Töchtern, der alte Herr mit seiner jungen Frau. Diese hatte übrigens in dem jungen Herrn aus Havre einen aufmerksamen, erfindungsreichen Diener gefunden, der für ihr Wohl sorgte. Er verschwand und kehrte mit einem Brod und Aepfeln zurück, die er im Holzstall gefunden hatte. Flora ärgerte sich und sagte, das Brod wäre für ihre kranke Mutter bestimmt. Er aber zerschnitt es bereits und vertheilte es unter die Damen; er begann natürlich bei der jungen Frau, die ihn geschmeichelt anlächelte. Ihr Gatte war darob nicht böse, er kümmerte sich gar nicht mehr um sie, sondern sprach angelegentlich mit dem Amerikaner über die kaufmännischen Sitten Newyorks. Noch nie hatten die jungen Engländerinnen so vergnügt in einen Apfel gebissen. Ihre sich sehr abgespannt fühlende Mutter war in einen Halbschlaf versunken. Zu ebener Erde vor dem Herde kauerten noch zwei andere Frauen, sie waren ebenfalls von dem langen Warten überwältigt. Die Männer, die eine Viertelstunde vor der Thür geraucht hatten, um die Zeit todtzuschlagen, kehrten gründlich durchfroren und zähneklappernd zurück. Allmählich steigerten sich das Uebelbefinden, der ungenügend gestillte Hunger und die durch die unbequeme Lage und Ungeduld verstärkte Müdigkeit.
Durch das Kommen und Gehen Misard’s war die Thüroffen geblieben und Tante Phasie konnte von ihrem Bett aus in das Nebenzimmer sehen. Das war also diese Welt, die sie wie einen Blitz schon seit einem Jahre an sich vorüberfliegen sah, seit sie ihr Bett mit dem Stuhl vertauschte. Nur höchst selten hatte sie bis zur Thür gehen können, für gewöhnlich war sie Tag und Nacht mutterseelenallein an das Zimmer gefesselt und ihre an das Fenster gebannten Augen hatten keine andre Zerstreuung, als das Vorüberjagen der Züge. Sie hatte sich immer über
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