Die Bestie im Menschen
und der kühnen Miene einer riesigen Wilden sah sie auf diese ihr fremde Welt. Nur zwei Gesichter waren ihr schon seit Monaten bekannt: die des Amerikaners und des jungen Mannes aus Havre; sie examinirte sie jetzt, wie man ein endlich gefangenes, brummendes Insect anblickt, das nicht mehr weiterfliegen kann. Sie kamen ihr als etwas ganz Besonderes vor, denn genau so hatte sie sich jene doch nicht vorgestellt, von denen sie übrigens nichts weiter kannte als ihre Gesichtszüge. Die anderen Leute schienen nach ihrer Meinung von verschiedenen Rassen zu stammen, vom Himmel gefallene Bewohner einer unbekannten Welt zu sein, die sie mit zu sich in die Küche genommen und deren Kleidungen, Sitten, Gedanken sie nie für möglich gehalten hätte. Die englische Dame erzählte der jungen Kaufmannsfrau, daß sie nach Indien zu ihrem Sohne, einem hohen Würdenträger, reise, und diese scherzte, daß sie es das erste Mal, wo sie ihren Gatten nach London begleitet hatte, wohin sich derselbe zweimal im Jahre begab, so schlecht getroffen habe. Alle lamentirten bei dem Gedanken, in dieser Einöde gefangen zu sitzen; wie sollte man es anfangen, hier zu essen und zu schlafen! Flore hörte ihnen unbeweglich zu. Sie war dem Blick Séverine’s begegnet, die auf einem Stuhle vor dem Herde saß; sie winkte sie in das nebenan gelegene Zimmer.
»Mutter,« so meldete sie Séverine an, »hier ist Frau Roubaud … Hast Du ihr etwas zu sagen?«
Phasie lag mit gelbem Gesicht und geschwollenen Beinen im Bett, seit vierzehn Tagen schon war sie so krank, daß sie nicht mehr aufstehen konnte. In dem ärmlichen Zimmer, dessen gußeiserner Ofen eine fürchterliche Hitze ausstrahlte, verbrachte sie die Stunden damit, ihre fixe Idee in ihrem Kopfe hin- und herzuwälzen. Sie hatte keine andere Zerstreuung als das Dröhnen der mit voller Kraft vorübersausenden Eilzüge.
»Ah, Frau Roubaud,« murmelte sie, »gut, gut!«
Flore erzählte ihr von dem Unfall und von der Menge Menschen, die sich im Nebenzimmer befand. Aber alles das rührte sie nicht.
»Gut, gut,« wiederholt sie mit derselben müden Stimme.
Einen Augenblick wurde es in ihrem Kopf etwas lichter, sie richtete sich etwas auf und sagte:»Madame will vielleicht ihr Haus sehen, die Schlüssel hängen neben dem Schrank, wie Du weißt,«
Séverine wollte nicht. Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, nach la Croix-de-Maufras durch diesen Schnee in diesem bleichen Lichte zurückkehren zu sollen. Nein, nein, sie wollte nichts sehen und zog es vor, in dieser behaglichen Wärme zu bleiben und zu warten.
»So setzen Sie sich doch, Frau Roubaud,« bat Flore. »Hier ist es noch etwas besser als nebenan. Ich weiß nicht, woher wir das viele Brod für alle diese Leute nehmen sollen. Aber wenn Sie Hunger haben, für Sie ist immer ein Bissen da.«
Sie hatte ihr einen Stuhl hingeschoben und zeigte sich fortwährend aufmerksam gegen sie; sie kämpfte sichtbar gegen die angeborene Schroffheit an. Aber ihre Augen verließen die junge Frau nicht, als wollte sie in ihr lesen und sich Gewißheit verschaffen über eine Frage, die sie sich selbst schon seit einiger Zeit vorlegte. Und unter diesem Zwange fühlte sie das Bedürfniß, um Séverine herum zu sein, ihr in das Gesicht zu blicken, sie zu berühren, um endlich klar zu sehen.
Séverine dankte ihr und nahm neben dem Ofen Platz. Sie zog es in der That vor, mit dieser Kranken allein in einem Zimmer zu bleiben, denn hier, so hoffte sie, würde Jacques sich ihr am bequemsten nähern können. Zwei Stunden verstrichen, die große Hitze überwältigte sie, sie schlief ein, nachdem sie vom Landleben geplaudert. Plötzlich riß Flore, die alle Augenblicke in die Küche gerufen wurde, die Thür auf und sagte in ihrer rauhen Stimme:
»Tritt hier herein, hier ist sie!«
Es war Jacques, der sich von der Arbeit weggestohlen hatte, um gute Nachrichten zu bringen. Der nach Barentin geschickte Schaffner hatte dreißig Soldaten mitgebracht, die von der Verwaltung in Erwartung irgend welcher Unfälle nach bedrohten Punkten dirigirt werden sollten. Alle diese waren mit Beilen und Schaufeln fleißig bei der Arbeit. Aber es würde noch lange dauern, vielleicht bis in die Nacht.
»Es geht Ihnen jedenfalls nicht zu schlecht, also haben Sie Geduld,« setzte er hinzu. »Nicht war, Tante Phasie, Sie werden Frau Roubaud nicht verhungern lassen?«Phasie hatte sich beim Anblick ihres großen Jungen, wie sie ihn nannte, mühsam aufgerichtet und sah ihn an, sie hörte ihn lebhaft
Weitere Kostenlose Bücher