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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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schritt muthig und thätig an das Rettungswerk, an welchem sich alle Arme betheiligten. Viele der Flüchtlinge waren zurückgekehrt und schämten sich ihrer Feigheit. Aber man mußte höchst vorsichtig zu Werke gehen, jedes Stück mußte sehr sorgfältig abgeräumt werden, denn man fürchtete, die unter den Trümmern Begrabenen durch einen Nachsturz derselben noch mehr zu verletzen. Aus dem wüsten Haufen tauchten jammernde Verwundete auf, deren Unterkörper wie in einem Schraubstock eingeklemmt saßen. Eine volle Viertelstunde arbeitete man, um Jemand freizubekommen, der, bleich wie weißes Leinen, sagte, daß ihmnichts fehle. Als man ihn aber heraus hatte, sah man, daß ihm die Beine fehlten. Er verschied auf der Stelle, ohne vorher von dieser fürchterlichen Verstümmelung etwas gewußt oder gefühlt zu haben, so sehr hatte der Schreck jedes andere Gefühl erstickt. Eine ganze Familie wurde aus einem Waggon zweiter Klasse gezogen, der bereits vom Feuer ergriffen worden war: Vater und Mutter hatten Verletzungen an den Knieen davongetragen, die Großmutter einen Arm gebrochen; aber sie spürten ihr Leiden nicht, sondern riefen verzweiflungsvoll nach ihrem kleinen Töchterchen, einem dreijährigen Blondköpfchen, das bei der Entgleisung verschwunden war und bald unter dem Bruchstück einer Waggondecke gesund und mit fröhlich lächelndem Gesichtchen aufgefunden wurde. Ein andres mit Blut besudeltes kleines Mädchen hatte man mit zerquetschten Händchen bei Seite getragen, bis sich ihre Eltern fanden; es saß nun stumm und unbekannt auf der Erde und sagte kein Wort, sobald sich aber Jemand ihr näherte, nahmen ihre Züge den Ausdruck unsäglicher Angst an. Viele Thüren ließen sich nicht öffnen, weil durch den Stoß ihre Schlösser verbogen worden waren, man mußte durch die zerbrochenen Fensterscheiben in die Koupees dringen. Vier Leichname lagen bereits in einer Reihe neben dem Geleise. Ein Dutzend, Todten gleichende Verwundete warteten hilflos auf einen Arzt, um sich verbinden zu lassen. Unter jedem Trümmerstück beinahe wurde ein neues Opfer gefunden, der Haufen schien nicht kleiner zu werden, alles rieselte und dampfte von dieser menschlichen Schlächterei.
    »Wie ich Ihnen sagte, Jacques liegt hier drunter!« wiederholte Flore, als fände sie Trost in dieser hartnäckigen, immer von Neuem ausgesprochenen Behauptung. »Er ruft, still, still, so hört doch!«
    Der Tender lag eingeklemmt unter den andren Waggons, die über ihn fort gestolpert und über ihm zusammengebrochen waren. Seit die Locomotive nicht mehr so großen Lärm machte, hörte man in der That das Aechzen einer tiefen Männerstimme aus dem wüsten Chaos dringen. Je weiter man vordrang, desto lauter und schmerzlicher äußerte sich die Stimme dieses Sterbenden, so daß selbst die Arbeitenden sie nicht mehr ertragen konnten und laut zu schluchzen begannen. Als man endlich den Mann selbst an den Beinenhervorzog, verstummte das fürchterliche Klagegeschrei. Er war todt.
    »Nein,« sagte Flore, »er ist es nicht. Er muß noch tiefer liegen.«
    Mit ihren Soldatenarmen hob sie die Räder auf und warf sie auf die Seite, sie bog das Zink der Waggondächer mit Leichtigkeit, brach die Thüren auf und riß ganze Stücke von eisernen Ketten ab. Sobald sie auf einen Todten oder Verwundeten stieß, rief sie, damit man ihn bei Seite trug, sie selbst wollte keine Sekunde aufgehalten sein.
    Cabuche, Pecqueux und Misard drängten ihr nach, während Séverine nicht helfen konnte und vor Schwäche fast ohnmächtig sich auf eine losgerissene Koupeebank setzte. Misard’s Phlegma gewann allmählich wieder die Oberhand, er ging zu großen Anstrengungen aus dem Wege und beschränkte sich vornehmlich auf das Forttragen der Körper. Er und Flore sahen den Leichnamen in das Gesicht, als hofften sie aus den tausenden und aber tausenden von Menschen, die seit zehn Jahren an ihnen vorübergefahren waren und in ihnen nur eine wirre Erinnerung an eine wie vom Blitz gebrachte und von ihm entführte Menge hinterlassen hatte, Bekannte wiederzufinden. Aber nein, es war immer wieder nur diese unbekannte Fluth der Welt auf Reisen. Dieser brutale, durch einen Eisenbahnunfall herbeigeführte Tod blieb ihnen etwas ebenso unbekanntes, als das es eilig habende Leben selbst dessen Galopp hier vorbei der Zukunft entgegenführte. Sie konnten keinen bei Namen nennen, keine Auskunft geben über die vom Schreck entstellten Häupter der zu Boden geschleuderten, zertretenen, zermalmten

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