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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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weit geöffneten Lidern dem Kommenden entgegensah. Während der kaum auszudenkenden Zeit, in der die Maschine noch einen Meter von den Blöcken entfernt war, sah sie ganz deutlich Jacques, der die Kurbel des Fahrtregulators gepackt hielt. Er sah hinüber, ihre Augen tauschten einen einzigen Blick aus. Er däuchte Flore maßlos lang.
    Jacques hatte Séverine an diesem Morgen freundlich zugelächelt, als sie wie jeden Freitag früh zum Eilzuge auf dem Perron erschienen war. Warum sich auch das Leben durch Sorgen noch mehr verbittern? Warum nicht die Stunden des Glücks genießen, so oft sich eine darbot. Vielleicht machtesich schließlich noch Alles. Er wenigstens war entschlossen, die Freude dieses Tages ganz auszukosten, er schmiedete allerlei Pläne und träumte bereits von einem gemeinsamen Frühstück in einem Restaurant. Als sie ihm einen trostlosen Blick zuwarf, weil an der Spitze des Zuges sich kein Waggon erster Klasse befand und sie gezwungen war, weit von ihm im Hinteren Ende des Zuges Platz zu nehmen, hatte er sie durch einen fröhlichen Blick trösten wollen. Man kam ja doch zugleich an und die Wiedervereinigung war dann um so schöner. Als er sich vornüberbeugte, um sie in das Koupee steigen zu sehen, hatte ihn sogar seine gute Laune veranlaßt, Henri Dauvergne, den Zugführer, der, wie er wußte, in sie verschossen war, mit ihr zu necken. In der vorigen Woche hatte er sich eingebildet, daß dieser kühner wurde und daß sie ihn, um sich zu zerstreuen und das elende Leben, das sie sich selbst bereitet, zu vergessen, ermuthigte. Roubaud behauptete es als selbstverständlich, daß sie sich schließlich auch diesem jungen Menschen hingeben würde und zwar ohne jede Gefühle, lediglich, um etwas Neues kennen zu lernen. Und Jacques fragte Henri nun, wem er denn eigentlich am verflossenen Abend, hinter einer der Ulmen des Bahnhofsplatzes verborgen, Kußfinger durch die Luft zugeworfen hätte. Pecqueux, der gerade Kohlen auflegte, platzte mit lautem Lachen heraus. Und dampfend stand die Lison fahrtbereit da.
    Die Strecke von Havre nach Barentin hatte der Eilzug mit seiner gewöhnlichen Schnelligkeit ohne bemerkenswerthen Zwischenfall zurückgelegt. Henri war der erste, der von seiner hohen Wachtcabine aus beim Verlassen der Schlucht den die Geleise versperrenden Karren signalisirte. Der Gepäckwagen an der Spitze des Zuges war mit Gepäckstücken vollständig angefüllt, denn der sehr belastete Zug barg eine große Menge Reisender, die am Abend vorher mit einem Dampfer gelandet waren. Eingeklemmt von diesem Berg bei jedem Stoß tanzender und schwankender Koffer und Körbe stand der Zugführer in seiner Koje und schrieb; ein kleines Fläschchen Dinte hing an einem Nagel und pendelte ununterbrochen hin und her. Wenn in einer Station Gepäckstücke abgeladen worden waren, hatte er vier bis fünf Minuten zu schreiben. In Barentin waren zwei Reisende ausgestiegen, er war also noch dabei, seine Papiere in Ordnung zu bringen und wolltesich gerade in seine Koje begeben, wobei er, wie er es gewöhnlich that, seinen Blick rückwärts und vorwärts über die Geleise streifen ließ. In diesem mit Fensterscheiben versehenen Käfig hielt er sich in allen freien Minuten auf und lugte umher. Der Tender verbarg ihm den Locomotivführer, aber in Folge seines höheren Standpunktes sah er oft weiter und schneller wie dieser. Der Zug war noch in der Schlucht, als er bereits das Hinderniß vor ihm bemerkte. Seine Ueberraschung war eine so große, daß er einen Augenblick vor Schrecken starr war. Dadurch gingen einige Sekunden verloren, der Zug rollte schon aus dem Hohlweg heraus und ein lauter Aufschrei tönte von der Locomotive herüber, als er sich erst entschloß, das Lärmsignal in Bewegung zu setzen, dessen Melder vor ihm hing.
    Jacques hatte in diesem kritischen Augenblick die Kurbel des Fahrtregulators in der Hand und sah, ohne etwas zu sehen, denn seine Gedanken irrten anderswo. Er dachte an unklare und fernliegende Dinge, die selbst Séverine’s Bild verdrängt hatten. Das tolle Läuten der Glocke, das Aufkreischen Pecqueux’ hinter ihm weckten ihn erst. Pecqueux war unzufrieden mit der Zugluft des Feuerkessels gewesen und hatte den Schaft des Aschkastens herausgezogen. In diesem Augenblick hatte er sich gerade hinausgebeugt, um sich von der Schnelligkeit der Locomotive Rechenschaft zu geben. Jacques, todtenbleich geworden, sah und begriff Alles, vor ihm der Karren, die dahinrasende Locomotive, der unvermeidliche

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