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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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schwächte das Alter bereits ihre Glieder und machte ihre Bindungen ungelenk. Er verzieh ihr deshalb gern und fühlte tiefen Kummer, als er sie so im Todeskampf liegen sah. Die arme Lison hatte nur noch wenige Minuten zu leben. Sie erkaltete schon, die Kohlengluth verwandelte sich in Asche, der Athem, der vorher so heftig ihrer Brust entflohen war, lief in das leise Wimmern eines schluchzenden Kindes aus. Noch immer leuchteten ihre Glieder, trotzdem sie mit Erde und Schleim beschmutzt inmitten eines schwarzen Sumpfes von Kohlen ausgeweidet auf dem Rücken lag. Sie endete ebenso tragisch wie ein auf der Straße von einem Unfall betroffenes Luxuspferd. Einen kurzenAugenblick noch hatte man durch ihre zerbrochenen Rippen das Leben in ihr pulsiren sehen können, aber es war nur das letzte Zucken gewesen. Ihre Seele entfloh zugleich mit der Kraft, die ihr Leben gewesen war, mit dem mächtigen Athem, der gar nicht enden zu wollen schien. Immer stiller wurde die zu Tode getroffene Riesin, sanft schlummerte sie ein und schwieg. Sie war todt. Und das Gewirr von Eisen, Stahl und Kupfer, das sie als vergänglichen Theil zurückgelassen, dieser geborstene Koloß mit seinem gespaltenen Rumpf, seinen zerschmetterten Gliedern, seinen zerrissenen, an das Licht gezerrten Eingeweiden erinnerte an die traurigen Reste eines riesigen menschlichen Körpers, einer ganzen, von frischem Leben pulsirenden Welt, der man das Herz mit Gewalt herausgerissen hatte.
    Als Jacques Lison’s Dahinscheiden begriffen, schloß er wieder die Augen mit dem Wunsche, ebenfalls sterben zu können; er fühlte sich so schwach, daß er auch mit dem letzten leisen Athemzug der Locomotive zu entschweben vermeinte. Unter den geschlossenen Lidern drängten sich jetzt die Thränen hervor und flossen über seine Wangen. Das war zu viel für Pecqueux, der noch immer unbeweglich mit zusammengepreßter Kehle dastand. Ihre gute Freundin war hinüber und sein Locomotivführer schien ihr folgen zu wollen. Ihre Ehe zu Dreien war also wirklich für immer zerstört? Vorüber die Fahrten auf ihrem Rücken, bei denen sie hundert Meilen zurücklegten, ohne ein Wort zu sprechen und wobei sie sich doch verstanden, selbst ohne sich ein Zeichen zu geben? Die arme Lison, wie sanft war sie gewesen trotz ihrer Stärke und wie schön hatte sie in der Sonne geleuchtet! Und Pecqueux, der heute nicht getrunken hatte, brach in lautes, nicht niederzukämpfendes Schluchzen aus, das seinen ganzen Körper schüttelte.
    Séverine und Flore waren in Verzweiflung über diese abermalige Ohnmacht Jacques’. Die Letztere lief in’s Haus und holte Kampferspiritus, damit rieb sie ihn ein, um wenigstens etwas zu thun. Noch mehr aber litten die beiden Frauen in ihrer Angst unter dem endlosen Todeskampfe des Pferdes, das allein von den fünfen noch lebte und dem beide Vorderfüße abgerissen waren. Es lag neben ihnen und wieherte beständig; es war ein so fürchterliches Jammern wie aus menschlichem Munde, daß zwei der Verwundeten ebenfalls wieThiere zu heulen begannen. Kein Todesschrei hatte die Luft mit einer so entsetzlichen, unvergeßlichen Frage durchtönt, die das Blut zu Eis gefrieren machte. Die Qual wurde unerträglich, es wurden Stimmen des Mitleids und des Zornes laut, die baten, man möchte doch ein Ende mit dem Leiden des Pferdes machen, dessen endloses Wiehern, nun die Locomotive todt war, wie der letzte Weheruf der Katastrophe klang, Pecqueux raffte, noch immer schluchzend, die Hacke mit dem zerbrochenen Eifen auf und ein einziger Schlag vor den Schädel erlöste das arme Thier. Und tiefe Stille senkte sich auf dieses Schlachtfeld hernieder.
    Nach zweistündigem Warten traf Hilfe ein. Durch den Anprall hatten sich sämmtliche Waggons nach links geworfen, so daß das andere Geleise in wenigen Stunden wieder fahrbar sein konnte. Ein Zug mit drei Waggons brachte aus Rouen den Cabinetschef des Präfecten, den kaiserlichen Procurator, Ingenieure und Aerzte der Gesellschaft, eine ganze Fluth bestürzter und geschäftiger Persönlichkeiten herbei, während der Bahnhofsinspector von Barentin, Herr Bessière, mit einer Arbeiterschaar unter den Trümmern aufzuräumen begann. Ein außergewöhnliches Leben und Treiben herrschte mit einem Male in diesem abseits gelegenen, gewöhnlich so stummen und öden Winkel. Die unverletzt gebliebenen Reisenden zitterten förmlich nach der Raserei ihrer Panik vor Verlangen nach Bewegung: die Einen suchten nach Wagen, denn sie fürchteten sich, wieder in die

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