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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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querfeldein, um instinctiv von der Gefahr so weit als möglich fern zu sein. Frauen, Männer verloren sich heulend und mit gesträubten Haaren in das Dickicht.
    Zu Boden geworfen, getreten, mit in Fetzen herunterhängenden Kleidern stand Séverine endlich gerettet da. Sie floh nicht, sondern stürmte zur röchelnden Locomotive, wo sie auf Pecqueux stieß.
    »Jacques, wo ist er, ist er gerettet?«
    Der Heizer, der durch ein wahres Wunder keinerlei Verletzung davongetragen hatte, war zu demselben Zwecke dorthin geeilt. Der Gedanke, daß sein Locomotivführer unter den Trümmern liegen könnte, drückte ihm fast das Herz ab. War man doch nun schon so lange mitsammen gefahren und hatte man doch gemeinsam so vieles tragen und erdulden müssen. Und ihre Locomotive, ihre so geliebte Freundin, die dritte in diesem Freundschaftsbunde, lag nun auch auf demRücken und gab aus ihren zerrissenen Lungen ihren letzten Athem von sich.
    »Ich sprang,« stotterte er, »ich weiß nichts … Kommen Sie schnell!«
    Auf dem Damm stießen sie auf Flore, die sie kommen sah. Bis jetzt hatte sie sich vor Staunen über ihre vollbrachte That und über das von ihr angerichtete Gemetzel nicht gerührt. Es war also geschehen und gut so. Ihr Verlangen war nun befriedigt, Mitleid für die Anderen, die sie garnicht bemerkte, fühlte sie nicht. Doch als sie Séverine erkannte, riß sie ihre Augen fast widernatürlich weit auf und ein Schatten fürchterlichen Leidens huschte über ihr aschfarbenes Gesicht. Sie lebte wirklich, diese Frau, die sie bereits für todt gehalten hatte? Ein spitziges Gefühl hatte ihr bisher innegewohnt, weil man ihre Liebe gemordet hatte, jetzt war es ihr aber, als dränge ihr ein Messer in die Brust und mit einem Male wurde es ihr klar, welch ein Fluch auf ihrer That laste. Sie war es gewesen, sie hatte alles das da getödtet! Ein Schrei der Verzweiflung entriß sich ihrer Kehle, sie rang die Arme und lief wie verrückt davon.
    »Jacques! Jacques! … Hier muß er sein, er ist nach hinten geschleudert worden, ich habe es deutlich gesehen … Jacques! Jacques!«
    Die Lison röchelte jetzt weniger laut, ihr Athem wurde schwächer und so hörte man jetzt auch das herzzerreißende Schreien und Wimmern der Verwundeten. Nur der Rauch wich noch nicht, der mächtige Trümmerhaufe, aus welchem diese Schreckensrufe und Schmerzensschreie drangen, schien von einer unbeweglich in der Sonne stehenden schwarzen Staubwolke umhüllt. Was thun? Was zuerst beginnen? Wie bis zu den Unglücklichen vordringen?
    »Jacques!« rief noch immer Flore. »Ich sage Ihnen, er hat mich noch angesehen und ist dann unter den Tender gerathen. Herbei, so helfen Sie mir doch!«
    Cabuche und Misard hatten soeben Henri, den Zugführer, aufgehoben, der im letzten Augenblick ebenfalls den Sprung gewagt hatte. Er hatte sich den Fuß verrenkt; sie setzten ihn am Boden nieder und lehnten ihn gegen die Hecke, von wo er stumm und zitternd das Bild der Zerstörung anstarrte, ohne anscheinend viel zu leiden.
    »Helfe mir, Cabuche, Jacques muß hier drunter liegen!«
    Der Kärrner hörte nicht, er lief zu andren Verwundeten und holte eine junge Frau, deren Beine, an den Schenkeln gebrochen, schlaff herunterhingen.
    Séverine eilte auf Flore’s Ruf herbei.
    »Jacques! Jacques! … Wo ist er? Ich werde Ihnen helfen.«
    »Gut, helfen Sie mir!«
    Ihre Hände begegneten sich, sie zogen gemeinsam an einem zerbrochenen Rade. Aber die zarten Finger der einen schafften nichts, während die Andre mit ihrer starken Hand alle Hindernisse forträumte.
    »Aufgepaßt!« mahnte Pecqueux, der sich jetzt den Beiden anschloß.
    Er riß rasch Séverine zurück, die gerade auf einen an der Schulter abgelösten, noch mit einem Fetzen blauen Tuches bekleideten Arm treten wollte. Sie wich erschrocken zurück. Dieses Tuch war ihr jedoch fremd, es war ein unbekannter Arm von einem wahrscheinlich irgendwo liegenden Körper, der dahin gerollt war. Sie zitterte aber so sehr in Folge dieses Anblicks, daß sie zu weinen anfing und ohne sich rühren zu können, der Arbeit der Andren zusah; sie war nicht einmal im Stande, die Glassplitter wegzuräumen, an denen sich die Hände schnitten.
    Die Rettung der Sterbenden und die Wegräumung der Todten war nicht ohne Gefahr, denn das Feuer der Locomotive hatte sich auf die Holztheile übertragen; um das Feuer im Keim zu ersticken, mußte es erst mit Erde zugeschaufelt werden. Man schickte nach Barentin, um Hilfe herbeizuholen, eine Depesche ging nach Rouen, man

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