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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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hatte. Sie überzeugte sich durch einen Blick nach dem besternten Himmel, daß es auf neun ging. Als sie an den Bahndamm kam, fuhr gerade ein Eilzug in der Richtung nach Havre vorüber. Es schien ihr das ein Vergnügen zu bereiten: da der Zug so glatt vorüberfuhr, hatte man jedenfalls das eine Geleise bereits freigemacht, während das andere wahrscheinlich noch gesperrt war, denn der Verkehr nach Paris war, wie es schien, noch nicht wieder aufgenommen. Sie schritt durch das große Schweigen dieser wilden Gegend an der Hecke entlang, Sie beeilte sich nicht, denn der nächste Zug aus Paris kam erst um neun Uhr fünfundzwanzig Minuten hier vorbei. Sehr gefaßt ging sie Schritt fürSchritt durch die tiefe Dunkelheit, als wenn sie einen ihrer gewöhnlichen Spaziergänge auf abgelegenen Pfaden machte. Um zum Tunnel zu gelangen, mußte sie durch die Hecke. Sie that es und schlenderte nun auf dem Geleise selbst ihrer Begegnung mit dem Eilzuge entgegen. Um von dem Wärter nicht gesehen zu werden, mußte sie sich mit List an ihm vorbeischleichen, wie immer, wenn sie Ozil am anderen Ende des Tunnels einen Besuch abstatten wollte. Im Tunnel selbst schritt sie unentwegt geradeaus. Sie empfand diesmal nicht dieselbe Furcht wie eine Woche vorher, wo sie sich umgedreht hatte und nicht mehr wußte, in welcher Richtung sie gehen sollte. Der Tunnelwahnsinn tobte nicht wieder in ihrem Gehirn, dieser Wahnsinnstaumel, in welchem alle Dinge, Zeit und Raum inmitten des donnerartigen Lärms und unter der schweren Last der Wölbung wie umflort erscheinen. Alles das war überwunden. Sie überlegte nicht, sie dachte kaum, sie hatte nur die eine fixe Empfindung, geradeaus gehen zu müssen, bis der Zug ihr entgegen kam und dann immer weiter geradeaus zu schreiten, direct in das Signallicht der Locomotive hinein, wenn es vor ihr durch die Nacht flammte.
    Flore fühlte aber etwas wie Ueberraschung, glaubte sie doch schon seit vielen Stunden so zu wandern. Wie fern war ihr doch der Tod, den sie herbeiwünschte! Der Gedanke, daß sie noch viele Meilen würde marschiren müssen, ohne ihm schließlich zu begegnen, brachte sie einen Augenblick zur Verzweiflung. Ihre Füße wankten, war es nicht besser sitzend zu warten und sich über die Schienen zu legen? Es schien ihr das zu unwürdig, sie hatte das Bedürfniß, wandern zu müssen, bis das Ende da war und dann aufrecht wie eine kriegerische Jungfrau zu sterben. Ihre Energie erwachte von Neuem, eine geheime Macht drängte sie instinctiv vorwärts. Jetzt sah sie in weiter Ferne das Signallicht der Locomotive wie einen einzigen, winzigen Stern am tintenschwarzen Himmel funkeln. Noch befand sich der Zug außerhalb der Wölbung, kein Geräusch verkündete sein Kommen, nur das lebhafte, fröhlich schimmernde Feuer breitete sich aus. Ihre geschmeidige Büste statuenhaft regend und auf ihren starken Beinen nicht wankend schritt sie jetzt etwas schneller aus, ohne indessen zu laufen, als könnte sie die Annäherung einer geliebten Freundin,der sie den Weg zu verkürzen wünschte, nicht erwarten. Der Zug fuhr jetzt in den Tunnel ein, das fürchterliche Donnern näherte sich und die Erde bebte vom Sturmwind gepackt; der kleine Stern war ein riesiges Auge geworden, das sich noch immer vergrößerte und wie ein Planet aus der Finsterniß sprang. Unter der Herrschaft eines unerklärlichen Gefühles, vielleicht um ganz allein sterben zu wollen, leerte sie, während sie noch immer heldenhaft vorwärts strebte, ihre Taschen und warf ein ganzes Häufchen auf die Seite, ein Taschentuch, Schlüssel, zwei Messer, Bindfaden; sie löste sogar die Nadel, welche ihr Kleid am Halse zusammenhielt und ließ die schon halb zerrissene Gewandung auf der Brust aufklaffen. Das Auge verwandelte sich jetzt in einen Gluthofen, feuchtwarm drang schon der Athem des Ungeheuers ihr entgegen, während der Donner immer betäubender schallte. Sie ging genau auf diese Gluth zu, um die Locomotive nicht zu verfehlen wie ein nächtliches, von der Flamme angelocktes Insect. Der schreckliche Zusammenstoß erfolgte, sie drehte sich um sich selbst und streckte die Arme aus; noch im letzten Augenblick erwachte der Instinct streitlustigen Gefühles in ihr, als wollte sie den Koloß in die Arme nehmen, um ihn zu bezwingen. Ihr Kopf hatte das Signallicht getroffen, dieses erlosch.
    Erst eine Stunde später hob man Flore’s Leichnam auf. Wohl hatte der Locomotivführer die befremdliche, hohe bleiche Schreckensgestalt in der Woge des sie jäh

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