Die Bestie im Menschen
Gestrüpp durchwucherten Gartens noch erhöhte. Er gedachte der abscheulichen Traurigkeit, des üblen Empfindens, das ihn jedesmal heimsuchte, als winkte ihm dort das Unglück seines Lebens. Jetzt, nun er so bleich in diesem Bett lag, glaubte er Alles zu verstehen, denn es konnte nichts Anderes sein: hier würde er sterben müssen.
Sobald Séverine seinen Verstand so weit gekräftigt glaubte, daß er Alles begreifen konnte, flüsterte sie ihm in das Ohr, während sie gleichzeitig das Oberbett heraufzog:
»Beunruhige Dich nicht, ich habe Deine Taschen ausgeleert und die Uhr an mich genommen.«
Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, endlich verstand er:
»Die Uhr … ganz recht, die Uhr.«
»Man hätte ja zufällig nachsuchen können. Ich habe sie unter meine Sachen versteckt. Fürchte also nichts.«
Er drückte ihr dankbar die Hand. Als er den Kopf wandte, sah er auf dem Tische das ebenfalls in seiner Tasche gefundene Messer liegen. Es war unnöthig, es zu verbergen; dieses Messer sah genau so aus wie alle anderen Messer.
Am zweitnächsten Tage fühlte sich Jacques schon etwas kräftiger, er wagte sogar zu hoffen, daß er nicht sterben würde. Er empfand ein wirkliches Vergnügen, als er Cabuche sich anstrengen sah, mit seinen schwerfälligen Füßen soleise als möglich durch das Zimmer zu gehen. Seit dem Unglück hatte der Kärrner Séverine nicht wieder verlassen, als fühlte er ein brennendes Verlangen, ihr seine Ergebenheit zu beweisen: er ließ seine Arbeit im Stich und kam jeden Morgen, um die groben Arbeiten im Hause zu verrichten; seine Augen verließen sie nicht, er geberdete sich ganz wie ein treuer Hund. Er meinte, sie sei eine strenge Frau, trotzdem sie so schmächtig aussähe. Man könnte schon ein Uebriges für sie thun, that sie doch auch so Viel für Andere. Die beiden Liebenden gewöhnten sich bald an ihn, sie umarmten sich ohne Scheu, während er mit seinem großen Leibe so behende als es ging discret durch das Zimmer schob.
Jacques wunderte sich indessen über die häufige Abwesenheit Séverine’s. Am ersten Tage hatte sie dem Wunsche des Arztes gemäß die Anwesenheit Henri’s verheimlicht, denn sie fühlte selbst, welche wohlthuende Wirkung die absoluteste Einsamkeit auf Jacques ausüben würde.
»Wir sind allein, nicht wahr?«
»Ja, Schatz, ganz allein … Schlafe nur ruhig.«
Sie verschwand am folgenden Tage trotzdem alle Minuten, er hatte auch im Erdgeschoß das Geräusch von Tritten und Flüstern vernommen. Am nächsten Tage hörte er sogar unterdrückte Fröhlichkeit, helles Lachen, zwei junge, frische, unermüdlich plaudernde Stimmen.
»Was giebt es da unten, wer ist dort? … Wir sind also nicht allein?«
»Nein, Schatz, gerade unter Deinem Zimmer liegt noch ein zweiter Verwundeter, den ich auch bei mir aufnehmen mußte.«
»Ah, wer ist das?«
»Henri, der Zugführer.«
»Henri … Ah!«
»Heute früh sind seine Schwestern angekommen. Sie sind es, die Du hörst, sie lachen über Alles .. Es geht ihm schon besser, sie wollen daher heute Abend schon wieder fort, weil der Vater sie nicht entbehren kann. Henri wird noch zwei oder drei Tage bleiben müssen, bis er vollständig wieder hergestellt ist … Denke Dir, er sprang, hat aber kein Glied gebrochen, nur war er wie ein Idiot. Jetzt ist sein Verstand schon wieder zurückgekehrt.«Jacques schwieg und heftete einen langen Blick auf sie. Sie setzte daher hinzu:
»Du begreifst doch … Wäre er nicht hier, wären wir beide schon wieder in’s Gerede gekommen … Da ich aber nun nicht mit Dir allein hier bin, kann mein Mann nichts sagen und ich habe einen guten Vorwand, um bleiben zu können …Begreifst Du?«
»Ja, ja, sehr gut so.«
Jacques hörte bis zum Abend das Lachen der kleinen Dauvergne wieder heraufschallen, wie damals in dem Zimmer in Paris, in welchem Séverine in seinen Armen ihm beichtete. Dann wurde Alles still, er vernahm kaum Séverine’s leisen Tritt, wenn sie von einem Verwundeten zu dem anderen ging. Die Thür unten fiel in’s Schloß, tiefe Ruhe herrschte im ganzen Hause. Zweimal verspürte er einen brennenden Durst, er klopfte mit dem Stuhl auf die Diele, damit Séverine zu ihm käme. Sie erschien dann auch lächelnd und hatte es sehr eilig; sie erklärte ihm, daß sie garnicht zur Ruhe käme, weil sie Henri fortwährend eiskalte Umschläge auf den Kopf legen müßte.
Am vierten Tage konnte Jacques aufstehen und zwei Stunden in einem Fauteuil am Fenster zubringen. Wenn er sich etwas vorbeugte,
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