Die Bestie im Menschen
sah er den schmalen, von niedrigen Mauern umschlossenen, mit wilden, blaß blühenden Rosensträuchern überwucherten Garten, durch den der Eisenbahndamm führte. Er erinnerte sich der Nacht, in der er sich auf die Fußspitzen gestellt hatte, um über die Mauer zu blicken, er sah das weite öde Terrain auf der anderen Seite des Hauses wieder, die lebendige Hecke, die es einschloß, durch die er geschlüpft war, dann Flore, die neben dem eingefallenen Gewächshaus gesessen hatte und mit einer großen Scheere die Knoten der gestohlenen Stricke durchschnitt. O, das war eine fürchterliche, so ganz von seiner schrecklichen Krankheit beherrschte Nacht gewesen! Diese Flore mit ihrer hohen, geschmeidigen Büste einer blonden Kriegerin, die ihre flammenden Augen starr auf die seinen zu richten pflegte, sie beschäftigte seine Gedanken ausschließlich, seit mit der Gesundheit sich auch das Erinnerungsvermögen wieder einstellte. Bisher hatte er von dem Unglück noch nicht gesprochen und aus seiner Umgebung hatte aus Gründen der Vorsicht noch Niemanddavon zu sprechen begonnen. Jetzt aber erinnerte er sich wieder jeder Einzelheit, er ergänzte sich Alles und gab sich, während er am Fenster saß, die größte Mühe, kleine Züge wiederzufinden und die Acteurs zu entdecken. Warum sah er sie nicht mehr vor der Barriere mit der Fahne im Arm? Er wagte Niemand zu fragen, dadurch wuchs aber die üble Empfindung, die ihm dieses traurige, wie ihm schien, von Gespenstern heimgesuchte Haus einflößte.
Eines Morgens jedoch, als Cabuche gerade Séverine half, konnte er nicht länger mit der Frage hinterm Berge halten.
»Ist Flore krank?«
Der Kärrner war so perplex, daß er das abwehrende Zeichen der jungen Frau nicht verstand und anstatt zu schweigen, Alles gerade heraus sagte:
»Die arme Flore ist todt!«
Jacques sah ihn zitternd an, wohl oder übel mußte ihm nun Alles gesagt werden. Beide erzählten ihm also von dem Selbstmord des jungen Mädchens, das sich im Tunnel habe überfahren lassen. Man hatte die Beerdigung der Mutter bis zum Abend hinausgeschoben, um die Tochter gleichzeitig mit ihr bestatten zu können. Beide ruhten jetzt Seite an Seite auf dem kleinen Kirchhof von Dionville, wo sie die ihnen im Tode vorangegangene sanfte, unglückliche und vergewaltigte Louisette wiedergefunden hatten. Drei Unglückliche von Jenen, die am Wege fallen und die man zertritt, die wie weggefegt waren von dem fürchterlichen Winde der vorüberjagenden Züge.
»Todt, mein Gott!« wiederholte Jacques leise, »meine arme Tante Phasie, Flore und Louisette!«
Bei Nennung der letzteren sah Cabuche, der Séverine das Bett machen half, instinctiv zu ihr auf: die Erinnerung an seine einstige Liebe kam ihm angesichts der neuen Leidenschaft ungelegen, die er ohne dagegen anzukämpfen als zärtlich veranlagtes, beschränktes Wesen in sich aufwachsen ließ wie ein guter Hund, den man mit der ersten Liebkosung für sich gewinnt. Aber die junge Frau, die über sein tragisches Liebesverhältniß vollständig orientirt war, blieb ernst und begegnete ihm mit theilnahmsvollen Blicken. Er war davon so gerührt, daß er, als ihre Hand ganz zufällig auf dem Kopfkissen dieseine streifte, auf Jacques’ Fragen nur stotternd antworten konnte.
»Sie soll also das Unglück absichtlich herbeigeführt haben?«
»O nein … Es war aber ihre Schuld, wie man meint.«
In abgebrochenen Sätzen erzählte er, was er wußte. Er selbst hatte nichts gesehen, denn er befand sich im Hause, als die Pferde losgingen und den Karren auf die Schienen zogen. Allerdings lastete auch auf ihm diese Thatsache erschwerend und beschämend, denn die Herren vom Gericht hatten ihn hart zur Rede gestellt und gesagt, es sei ein Verbrechen, das Gespann ohne Aufsicht gelassen zu haben, das fürchterliche Unglück wäre gewiß nicht geschehen, wenn er bei den Pferden geblieben sein würde. Die Untersuchung hatte also nur ein leichtes Vergehen Flore’s ergeben und da sie sich selbst schwer genug dafür bestraft hatte, so war damit die Sache abgethan. Man hatte nicht einmal Misard abgesetzt, der mit seiner unterwürfigen Miene sich dadurch aus der Klemme gezogen hatte, daß er alle Schuld auf die Todte wälzte: sie wäre stets nur nach ihrem Kopfe gegangen, er hätte alle Augenblicke seinen Posten verlassen müssen, um die Barriere zu schließen. Die Gesellschaft konnte daher nicht anders, als bekunden, daß er an jenem Morgen seine Schuldigkeit gethan habe. In der Erwartung, daß er sich noch
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