Die Bestie im Menschen
hätte: er hätte gern die Todte noch einmal sehen wollen, die Pferde seien durchgegangen und das junge Mädchen hätte sie nicht mehr halten können. Er verwickelte sich, begann von vorn, kurz man wurde nicht klug aus ihm.
Ein wilder Drang nach Freiheit tobte mit einem Male durch Flore’s eisiges Blut. Sie wollte frei sein, um nachzudenken und einen Entschluß zu fassen, hatte sie doch nie Jemandes bedurft, um den richtigen Weg einzuschlagen. Wozu noch warten, bis man sie mit langweiligen Fragen belästigte und sie womöglich verhaftete? Sie hatte außer dem Verbrechen auch ein Versehen im Dienste begangen, für das sie verantwortlich gemacht werden mußte. Trotzdemrührte sie sich nicht vom Fleck, so lange Jacques noch da war.
Séverine hatte Pecqueux so lange gebeten, bis es diesem geglückt war, eine Tragbahre aufzutreiben. Er erschien mit einem Kameraden, um den Verwundeten fortzutragen. Der Arzt hatte die junge Frau bewogen, auch den Zugführer Henri in ihr Haus zu nehmen, der nur an einer starken Gehirnerschütterung zu leiden schien. Man wollte ihn nach Jacques fortschaffen.
Als Séverine sich niederbeugte, um den obersten Knopf der Jacke zu lüften, der Jacques am Halse würgte, küßte sie ihn vor aller Welt auf die Augen, sie wollte ihm dadurch Muth für den Transport einflößen.
»Fürchte nichts, wir werden glücklich sein.«
Er erwiderte lächelnd den Kuß. Das hatte noch gefehlt, um Flore’s Herz völlig zu zerfleischen, das riß Jenen auf immer von ihr. Ihr schien es, als flösse auch ihr Blut in Strömen aus einer unheilbaren Wunde. Als man ihn wegtrug, ergriff sie die Flucht. Beim Vorübergehen an ihrem Häuschen sah sie durch die Scheiben das Todtenzimmer, noch immer schimmerte die Kerze neben dem Körper ihrer Mutter bleich in das volle Tageslicht hinein. Während des Unglücks hatte die Todte allein gelegen, den Kopf zur Seite gewandt, ihre Augen waren weit offen, die Lippe verzerrt, als hätte sie diese ihr fremde Welt sich den Kopf einrennen und sterben gesehen.
Flore rannte davon, sie folgte zuerst der Biegung, welche die Straße nach Doinville macht, dann drang sie nach links durch das Gebüsch. Sie kannte jeden Winkel in dieser Gegend, sie fürchtete daher nicht, daß die Gensdarmen sie so schnell finden würden, falls man sie ihr nachsandte. Sie hielt daher plötzlich in ihrem rasenden Laufe inne und ging langsam auf einen Versteck, eine Art Aushöhlung oberhalb des Tunnels zu, in welcher sie an traurigen Tagen gern zu verweilen pflegte. Sie sah empor, es war um die Mittagszeit. Als sie in ihrem Loche saß, streckte sie sich lang auf den harten Fels aus und blieb unbeweglich, die Hände unter den Nacken geschoben, liegen. Eine fürchterliche Leere gähnte in ihr, ein Gefühl, als sei sie schon gestorben, machte nach und nach ihre Glieder gefühllos. Sie empfand keineGewissensbisse darüber, so viele Menschen unnütz abgeschlachtet zu haben, sie mußte sich Gewalt anthun, um ein Bedauern und Abscheu zu fühlen. Aber sie wußte genau, daß Jacques gesehen hatte, wie sie die Pferde zurückhielt; sie verstand daher sein Zurückweichen vor ihr, den schreckhaften Widerwillen, den man vor Ungeheuern empfindet. Das konnte er ihr nie vergessen. Wenn man übrigens die Leute fehlt, denen man auflauert, so braucht man sich darum noch nicht selbst verfehlen. Sie wollte sofort in den Tod gehen. Jede Hoffnung war ihr erstorben; seit sie hier war und ruhiger über alles nachdachte, fühlte sie immer deutlicher die Nothwendigkeit des Selbstmordes. Nur die Müdigkeit, die Hinfälligkeit ihres ganzen Wesens hielten sie noch ab, aufzuspringen und eine Waffe zu suchen, um zu sterben. Und dennoch stieg aus der Tiefe ihres unüberwindlichen Halbschlummers die Liebe zum Leben, ein letzter Traum des Glücks, das Verlangen, auch so glücklich mitsammen leben zu können wie Jene beiden verschont Gebliebenen, in ihr auf. Warum wollte sie die Nacht nicht abwarten, um zu Ozil zu eilen, der sie anbetete und sie gewiß vertheidigen würde? Liebliche Gedanken flohen wirr durcheinander, sie sank in einen festen, traumlosen Schlaf.
Als Flore erwachte, war es tiefe Nacht. Wie betäubt tastete sie um sich, fühlte das kalte Gestein und erinnerte sich plötzlich, wo sie geschlafen hatte. Und wie ein Blitzstrahl leuchtete ihr jäh die unerbittliche Nothwendigkeit wieder ein; jetzt mußte gestorben sein.
Flore sprang auf und verließ ihr Felsenloch. Sie zauderte nicht, instinctiv fühlte sie, wohin sie sich zu wenden
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