Die Bestie im Menschen
überfluthenden Lichtes auf die Maschine zugehen gesehen. Als dann plötzlich die Laterne erlosch und der Zug mit donnerartigem Getöse durch das tiefe Dunkel rollte, hatte er gebebt, denn er hatte den Tod vorüberstreifen gefühlt. Als er den Tunnel verließ, bemühte er sich, dem Wärter die Mittheilung von dem Geschehniß zuzurufen. Allein erst in Barentin konnte er berichten, daß sich im Tunnel Jemand, wahrscheinlich eine Frau, unter die Räder geworfen habe; Haare vermischt mit Gehirntheilen klebten noch an der zerbrochenen Scheibe des Signallichts. Als die ausgesandten Männer den Körper fanden, waren sie von seiner weißen, marmorhaften Erscheinung überrascht. Durch die Wucht des Stoßes war er auf das andere Geleise geschleudert worden, der Kopf war zu Brei zermalmt, die halbnackten, so herrlich in ihrer Reinheit und Kraftschimmernden schönen Glieder aber waren unverletzt geblieben. Schweigend hüllten die Männer den Leichnam ein. Sie hatten Flore erkannt. Es war ihnen klar, daß sie sich hatte tödten lassen, um sich der auf ihr lastenden fürchterlichen Verantwortung zu entziehen.
Seit Mitternacht ruhte Flore in dem niedrigen Häuschen neben der Leiche ihrer Mutter. Man hatte Matratzen auf die Erde gelegt, eine Kerze angezündet und diese zwischen Beide gestellt, Phasie’s Kopf mit dem abscheulichen Lachen ihres verzerrten Mundes hing immer noch auf die Seite, sie schien mit ihren großen starren Augen jetzt ihre Tochter anzustarren. Durch das unheimliche Schweigen hörte man dumpfes Klopfen im ganzen Hause: Misard suchte noch immer athemlos nach dem Schatze und in regelmäßigen Pausen eilten die Züge nach beiden Richtungen vorüber, denn der Verkehr war wieder auf beiden Geleisen aufgenommen. Im Vollgefühl ihrer mechanischen Kraft jagten sie unerbittlich gleichgültig und ohne Kenntniß dieses Trauerspieles und dieser Verbrechen dahin. Was kümmerten sie die fremden Leute, die unterwegs zu Schaden kommen und von den Rädern zermalmt werden! Man hatte die Todten weggetragen, das Blut aufgewaschen und fuhr wieder der dunklen Zukunft entgegen!
Elftes Kapitel
Die beiden hohen Fenster des großen, in rothem Damast gehaltenen Schlafzimmers in la Croix-de-Maufras führten direct auf den nur einige Meter entfernt sich hinziehenden Bahndamm. Von dem Bett, einem alterthümlichen Säulenbett an der Hinterwand aus, sah man die Züge vorbeifahren. Seit vielen Jahren war hier nichts geändert, kein Stück berührt oder entfernt worden.
Séverine hatte den verwundeten, ohnmächtigen Jacques in dieses Zimmer tragen lassen, während Henri Dauvergne in ein anderes, kleineres, im Erdgeschoß gelegenes Zimmer gebettet wurde. Sie selbst nahm von einem, nur durch den Treppenflur von Jacques getrennten Zimmer Besitz. Innerhalb zwei Stunden war man fix und fertig eingerichtet, denn das Haus war vollständig ausmöblirt, selbst Wäsche war in den Schränken vorhanden. Séverine band sich eine Schürze vor und sah nun wie eine Krankenwärterin aus. Sie hatte an Roubaud telegraphirt, er möge sie nicht erwarten, sie bliebe einige Tage hier, um die in ihr Haus gebrachten Verwundeten zu pflegen.
Den nächsten Tag bereits hatte der Arzt erklärt, daß er Jacques innerhalb acht Tagen wieder herzustellen hoffe: wunderbarerweise waren die inneren Verletzungen ganz unbedeutender Natur. Er empfahl die größte Pflege und ausschließliche Ruhe. Als der Kranke die Augen öffnete, bat ihn Séverine, die ihn wie ein Kind behandelte, sich ruhig zu verhalten und ihr in Allem zu gehorchen. Er fühlte sichnoch so schwach, daß er durch ein Nicken mit dem Kopfe ihr Alles versprach. Seine Gedanken waren nun wieder völlig klar. Er erkannte sofort das Zimmer wieder, das sie ihm in der Nacht ihres Geständnisses beschrieben hatte, es war der Raum, in welchem sie zu sechzehn und einhalb Jahren vom Präsidenten Grandmorin vergewaltigt worden war. Es war jedenfalls auch dasselbe Bett, in welchem er jetzt lag, denn ohne den Kopf zu heben, konnte er die Züge vorüberfliegen sehen, wobei das ganze Haus in’s Wanken gerieth. Alles das erschien ihm so vertraut; wie oft wohl mochte er schon das Haus gesehen haben, wenn er auf seiner Locomotive an ihm vorübersauste! Und er sah es jetzt wieder, wie es in schräger Linie vom Bahndamm mit seinen geschlossenen Fensterläden öde und verlassen da stand; wie es noch trübseliger und erbärmlicher ausschaute, seitdem das mächtige Schild mit der Aufschrift: Zu verkaufen! die Melancholie des vom
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