Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
und an zwei Knöpfen der elektrischen Leitung zu drücken. Der eine meldete dem rückwärts stationirten Wärter, daß der Weg frei sei, der andre dem nächsten, daß der Zug komme.
    »Ach Du kennst ihn eben nicht,« begann Tante Phasie von Neuem. »Ich sage Dir, irgend eine Gemeinheit hat er mir angethan … mir, die ich so stark war, daß ich diesen Menschen mit Haut und Haaren hätte essen können und nun frißt mich dieses Nichts, dieser Knopf von einem Manne bei lebendigem Leibe auf!«
    Ihr dumpfer und scheuer Haß ließ sie sich ins Fieber reden. Sie leerte ihr Herz aus, entzückt, einen Zuhörer zu haben. Wo hatte sie nur ihren Kopf, als sie diesen Habenichts, diesen geizigen Duckmäuser heirathete, sie, die um fünf Jahre älter war als er und schon zwei Töchter, damals im Alter von sechs und acht Jahren besaß? Jetzt waren es bald zehn Jahre her, seit sie diesen Geniestreich ausgeführt und bisher hatte sie ihn noch in jeder Stunde zu bereuen gehabt: ein Leben voller Elend, wie verbannt in diesem eisigen Winkel des Nordens, der sie schaudern machte, langweilig zum Sterben und keinen Menschen, nicht einmal eine Nachbarin, mit der man hätte reden können. Er war ein früherer Steinsetzer, der jetzt als Bahnwärter zwölfhundert Franken verdiente. Sie erhielt fünfzig Franken für den Dienst an der Barriere, den jetzt Flore versah. So sah ihre hoffnungslose Gegenwart, so ihre hoffnungslose Zukunft aus; keine Aussicht auf ein besseres Leben, als in diesem, tausend Meilen von jedem lebenden Wesen entfernten Loche sterben zu müssen. Davon erzählte sie Jacques aber nichts, welchen Trost sie gehabt, ehe sie erkrankte, als ihr Gatte noch als Streckenarbeiter thätig war und sie mit ihren beiden Töchtern den Dienst an der Barriere allein versehen mußte. Ihr Ruf als der einer schönen Frau war damals ein so weit verbreiteter, daß die Strecken-Inspectoren nie an ihrem Häuschen vorübergingen, sie erweckte sogar Nebenbuhlerschaft, so daß selbst die abgelösten Aufseher mit verdoppelter Aufmerksamkeit stets unterwegs waren. Der Gatte genirte nicht; er war zu Jedermann unterwürfig, glitt zur Thür hinaus, ging und kam, ohne etwas zu merken. Leider aber waren diese Vertröstungen nun vorüber. Jetzt war sie in dieser Einsamkeit wochen- und monatelang an diesen Stuhl gefesselt und fühlte von Stunde zu Stunde ihren Körper mehr und mehr abnehmen.
    »Ich sage Dir,« schloß sie, »er stellt mir nach und so klein er ist, er wird mit mir fertig werden.«
    Ein plötzliches Anschlagen der Signalglocke ließ sie ihren unstäten Blick wieder nach draußen richten. Der weiter oben stationirte Wärter meldete Misard einen nach Paris gehenden Zug, und der Zeiger des vor dem Fenster angebrachten Kantonnements-Apparates hatte sich gemäß der Richtung des Zuges geneigt. Misard stellte den Läuteapparat ab und trat ins Freie, um den Zug durch zweimaliges Tuten zu signalisiren. Flore zog in demselben Augenblick die Barriere nieder, dann präsentirte sie die in dem Lederfutteral steckende Fahne. Man hörte den hinter einer Kurve herannahenden Zug, einen Schnellzug, mit wachsendem Dröhnen sich nähern. Wie ein Blitz, der das erzitternde Häuschen bedrohte, fuhr er inmitten eines Orkans vorüber. Flore war inzwischen bereits zu ihren Gemüsebeeten zurückgekehrt, während Misard erst das Signal gab, daß die Strecke in der Richtung des soeben passirten Zuges gesperrt sei, und dann durch den Druck des Hebels das rothe Licht verlöschen machte, als Zeichen, daß die entgegengesetzte Richtung frei sei. Ein abermaliges Läuten, verbunden mit einer entsprechenden Bewegung des zweiten Zeigers verkündeten ihm, daß der vor fünf Minuten vorübergekommene Zug bereits den nächsten Posten passirt habe. Er trat in die Bude, meldete es den beiden nächsten Wärtern, schrieb die Passagezeit ein und wartete. Immer der gleiche Dienst, den er durch zwölf Stunden täglich versah; in seiner Bude lebte er, aß er, ohne jemals drei Zeilen einer Zeitung zu lesen, ja selbst ohne einen Gedanken in seinem flachen Schädel zu fassen.
    Jacques, der seine Pathe ehedem mit den Verwüstungen neckte, die sie in dem Herzen der Weginspectoren anrichtete, konnte sich nicht enthalten, lächelnd zu sagen:
    »Vielleicht ist er eifersüchtig.«
    Phasie aber hatte nur ein mitleidiges Achselzucken, während sich ein Lächeln aus ihren armen gebleichten Augen drängte.
    »Du, mein lieber Junge, sagst das? … Er eifersüchtig! Er hat sich den Teufel um mich gekehrt,

Weitere Kostenlose Bücher