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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Wohlbefindens von sich und anderen, zurück.
    »Und Dir geht es jetzt ganz gut? Erinnerst Du Dich noch an die Krankheit, an welcher Du bei uns littest und für die selbst der Arzt keinen Namen fand?
    Sein Blick flimmerte unstät.
    »Mir geht es sehr gut, Pathe.«
    »Wirklich? Also der Schmerz hinter den Ohren, der Dir das Gehirn zu durchbohren schien, die plötzlichen Fieberanfälle und die jähe Schwermuth, die Dich wie ein Thier in einen einsamen Winkel niederzukauern zwang, alles das hat aufgehört?«
    Je mehr sie sprach, desto heftiger wurde in ihm das Gefühl der Uebelkeit, so daß er sie schließlich kurz angebunden unterbrechen mußte.
    »Ich versichere Sie, es geht mir ausgezeichnet … Mir fehlt gar nichts mehr.«
    »Desto besser, mein Junge, desto besser … Wenn es Dir auch schlecht ginge, mit mir stände es deshalb doch nicht anders. In Deinem Alter ist man auch immer gesund. Ach, die Gesundheit, es giebt nichts Schöneres .. Es ist jedenfalls hübsch von Dir, daß Du mich besuchst, anstatt Dich sonstwo besser zu unterhalten. Du issest bei uns und schläfst oben in der Vorrathskammer, neben Flore’s Zimmerchen.«
    Noch einmal schnitt ihr das Signalhorn das Wort ab. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Als Beide zum Fenster hinausblickten, unterschieden sie nur undeutlich die Umrisse von Misard und einem zweiten Manne. Es hatte soeben sechs geschlagen und Misard übergab den Dienst seinem Stellvertreter, der die Nachtwache hatte. Jetzt war er endlich frei, nachdem er zwölf Stunden in dieser nur mit einem Tische unter der Apparatplatte, einem niedrigen Stuhle und einem Ofen ausgestatteten Bude zugebracht hatte, dessen zu starke Gluth ein forwährendes Offenhalten der Thür verlangte.
    »Aha, da ist er, er wird gleich kommen,« murmelte Tante Phasie, von Furcht ergriffen, vor sich hin.
    Der signalisirte Zug kam mit dem von Sekunde zu Sekunde lauter werdenden Getöse wuchtig näher. Der junge Mann mußte, gerührt von dem elenden Zustande, in welchem er sie sah und bemüht, sie zu trösten, sich vorbeugen, um verständlich zu werden.
    »Hören Sie, Pathe, sollte er wirklich schlechte Gedanken haben, so läßt er sie vielleicht fallen, wenn er weiß, daß ich mich hineinmische … Sie thaten gut, mir die tausend Franken anzuvertrauen.«
    »Meine tausend Franken?« rief sie empört. »Weder Dir noch ihm … Lieber krepire ich, sage ich Dir!«
    In diesem Augenblick sauste der Zug mit orkanartiger Gewalt vorüber, als hätte er alles, was ihm im Wege stand, zerschmettert. Vom Winde gefaßt erbebte das Haus. Dieser nach Havre bestimmte Zug war sehr besetzt, denn am kommenden Sonntage sollte dort ein Fest, der Stappellauf eines Schiffes, gefeiert werden. Trotz der Schnelligkeit des Zuges hatte man das Gefühl, daß hinter den erleuchteten Scheiben die Koupees voller Menschen steckten, die Vision einer Reihe dicht gedrängter Köpfe, deren Profil man genau erkannte. Sie folgten sich und verschwanden. Welch eine Welt! Menge auf Menge, schier endlos inmitten des Rollens der Wagen, des Keuchens der Lokomotiven, des Anschlagens des Telegraphen und des Läutens der Glocken. Das Eisenbahnnetz, ein niedergekauertes riesenhaftes Wesen schien es zu sein, mit dem Kopfe in Paris, den Wirbelbeinen längs der ganzen Strecke der Linie, den Füßen und Händen in Havre und den andern Endpunkten. Und das zog und zog vorüber, mechanisch, triumphirend, der Zukunft entgegen mit einer mathematischen Genauigkeit, freiwillig verkennend, was ihm zu beiden Seiten, verborgen und doch lebendig im Menschen zurückgeblieben ist: die ewige Leidenschaft und das ewige Verbrechen.
    Flore war die erste, welche die Küche betrat. Sie zündete eine kleine Petroleumlampe an, die keinen Lichtschirm hatte, und stellte sie auf den Tisch. Kein Wort wurde gewechselt, kaum ein Blick glitt zu Jacques hinüber, der den Rücken ihr zugekehrt, am Fenster stand. Auf dem Herde hielt sich eine Kohlsuppe warm. Sie servirte sie gerade, als auch Misard erschien. Er bezeugte keine weitere Ueberraschung, den jungen Mann hier zu erblicken. Er hatte ihn vielleicht kommen gesehen, aber er fragte ihn nicht, er kannte eben keine Neugierde. Ein Händedruck, drei kurze Worte, nichts weiter. Jacques mußte aus sich heraus die Geschichte von der gebrochenen Treibstange, seiner Absicht, seine Pathe zu umarmen und hier zu übernachten nochmals wiederholen. Misard hatte durch ein sanftes Neigen des Hauptes sein Einverständniß mit alledem zu erkennen gegeben, man

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