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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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gut, denn er sah es ja auf jeder Fahrt beim Dröhnen seiner brummenden Maschine. Eine unklare Empfindung, die sein Anblick hervorrief, ärgerte ihn, er wußte selbst nicht, warum. Jedesmal fürchtete er, es könnte verschwunden sein, und erboste sich, wenn er es noch an derselben Stelle vorfand. Noch nie hatte er die Thüren oder Fenster offen gesehen. Er wußte nichts weiter, als daß es dem Präsidenten Grandmorin gehörte. An diesem Abend aber trieb ihn ein unstillbares Verlangen dorthin, um vielleicht mehr zu erfahren.
    Lange stand Jacques auf der Landstraße vor der Pforte. Er trat einige Schritte zurück, reckte sich in die Höhe und versuchte, sich klar zu werden. Der den Garten theilende Bahndamm hatte vor dem Hause ein schmales, von Mauern umschlossenes Parterre übrig gelassen; weiter hinten dagegen weitete sich ein ziemlich ausgebreitetes Terrain, welches nur von einer lebenden Hecke eingefriedet war. Im röthlichen Wiederschein dieser nebligen Nacht machte das Haus in seiner Verlassenheit einen unsäglich traurigen Eindruck. Jacques überlief es kalt und er wollte eben weiter gehen, als er ein Loch in der Hecke bemerkte. Der Gedanke, daß es feige wäre, nicht hineinzugehen, trieb ihn durch die Lücke. Sein Herz schlug zum Brechen. Doch gerade, als er an einem zerfallenen kleinen Gewächshause vorüberschreiten wollte, bannte ihn ein an der Thür desselben kauernder Schatten.
    »Wie, Du bist es?« rief er erstaunt, er hatte Flore erkannt. »Was thust Du hier?«
    Auch sie war überrascht zusammen gefahren.
    »Du siehst,« sagte sie jedoch gleich gefaßt, »ich hole mir Stricke. Es liegen hier so viele umher und faulen, ohne zu etwas zu nutzen. Daher hole ich sie mir, so oft ich welche gebrauche.«
    In der That hockte sie mit einer starken Scheere in der Hand am Boden. Sie entwickelte die Enden der Stricke und durchschnitt widerstrebende Knoten.
    »Kommt der Eigenthümer nie hierher?« fragte der junge Mensch.
    Sie lachte.
    »Pah, seit der Geschichte mit Louisette hat es keine Gefahr. Der Präsident wird es nicht wagen, auch nur seine Nasenspitze in la Croix-de-Maufras hineinzustecken. Ich kann unbesorgt ihm seine Stricke nehmen.«
    Er schwieg und sein Gesicht trübte sich bei der Erinnerung an jenen unglücklichen Vorfall, den Flore wachrief.
    »Und glaubst Du wirklich, was Louisette erzählte? Glaubst Du, daß er ihr nachstellte und daß sie sich bei ihrer Vertheidigung verletzte?«
    Sie hörte auf zu lachen und rief heftig:
    »Nie hat Louisette gelogen und Cabuche ebenso wenig … Cabuche ist mein Freund.«
    »Vielleicht jetzt auch Dein Geliebter?«
    »Er? Da müßte ich ja eine famose Dirne sein! … Nein, er ist mein Freund, einen Liebhaber habe ich nicht und will auch keinen.« Sie hatte ihren mächtigen Kopf aufgerichtet, dessen schwere, blonde Flechten tief in die Stirn hingen. Ihre ganze kräftige und geschmeidige Persönlichkeit strömte eine ungezähmte Entschlossenheit aus. Es hatte sich schon ein Märchen um ihre Person in der Umgegend gebildet. Man erzählte von ihr die wildesten Sachen: da hätte sie einen Wagen beim Herannahen eines Zuges mit einem Ruck von den Schienen gerissen, hier einen den Abhang von Barentin allein herunterlaufenden Waggon, dort einen wild gegen den Zug anstürmenden Stier aufgehalten. Diese Kraftproben machten kein geringes Aufsehen und natürlich waren alle Männer hinter ihr her. Da man sie stets auf den Feldern sah, sobald sie mit ihrer Arbeit fertig, oder in verborgenen Winkeln einsam, stumm und unbeweglich mit in die Luft starrenden Augen, so glaubte man zuerst, man würde mit ihr ein leichtes Spiel haben. Aber die ersten, welche das Abenteuer gewagt hatten, wagten es nicht zum zweiten Male. Sie liebte es, stundenlang in einem Bache in der Nähe nackt zu baden. Eines Tages hatten ihr gleichaltrige junge Männer sie dabei belauscht; Flore aber hatte sie gesehen und ohne sich erst die Mühe zu nehmen, ihr Hemd überzustreifen, hatte sie sich einen gelangt und ihn so zugerichtet, daß man sie fortan unbehelligt ließ. Dann erzählte man sich auch noch eine Geschichte von ihr mit einem Weichensteller von der Gabelung bei Dieppe, jenseits des Tunnels: ein gewisser Ozil, ein sehr ehrenhafter Mann von dreißig Jahren, dem sie Muth gemacht zu haben schien, versuchte es eines Abends auch, sie zu vergewaltigen. Er dachte sich die Sache sehr leicht, bekam aber einen Hieb mit dem Stock, daß er fast leblos liegen blieb. Ja, sie war eine kriegerische, jeder Gemeinheit abholde

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