Die Bestie im Menschen
verbleiben durfte, sondern daß auch dieses furchtbare Drama vergessen, begraben wäre. Wie ein dankbares, schmeichelndes Hausthier beugte sie sich in dem instinctiven Gefühl überwallenderZärtlichkeit über seine Hände, sie küßte sie und legte sie sich an ihre Wangen. Und diesmal zog er seine Hände nicht zurück, er fühlte sich tief ergriffen von dem Reiz dieser innigen Dankbarkeit.
»Nun vergessen Sie auch nicht das Geschehene,« sagte er und versuchte, wieder Haltung zu gewinnen, »und führen Sie sich gut.«
»O, mein Herr!«
Ihm lag aber auch daran, sie und den Mann von sich abhängig zu wissen und daher erinnerte er sie an das Vorhandensein ihres Briefes mit den Worten:
»Denken Sie daran, daß die Acten in Verwahrung bleiben und bei dem geringsten Verstoß Ihrerseits wieder zur Hand genommen werden … Empfehlen Sie namentlich Ihrem Manne, die Hand von der Politik zu lassen. In dieser Beziehung werden wir unerbittlich sein. Ich weiß wohl, daß er schon etwas auf dem Kerbholz hat, man hat mir von dem ärgerlichen Vorfalle mit dem Unterpräfecten erzählt … Sie sorgen also dafür, daß er vernünftig ist, wir würden ihn sonst ohne alle Umstände beseitigen müssen.«
Sie hatte sich nicht gesetzt. Es drängte sie in’s Freie, um ihrer sie fast erstickenden Freude freien Spielraum geben zu können.
»Wir werden gehorsam sein und ganz nach Ihrem Willen leben, mein Herr … Sie haben nur zu befehlen, gleichviel wie, gleichviel wohin: ich gehöre Ihnen.«
Er zeigte wieder dieses schlaffe, blasirte Lächeln eines Mannes, der alle Freuden des Lebens bis zum Ueberdruß durchkostet hat.
»O, ich werde mit dieser Bereitwilligkeit keinen Mißbrauch treiben, Frau Roubaud, ich mißbrauche nicht mehr.«
Er öffnete selbst die Thür des Cabinets. Zweimal noch drehte sie sich auf der Schwelle nach ihm um und ihr strahlendes Gesicht dankte ihm aber- und abermals.
Séverine durcheilte die Rue du Rocher wie wahnsinnig. Sie bemerkte, daß sie die Straße ganz ohne Grund hinablief; sie kehrte um, sie lief über den Damm, ohne Acht zu geben, ob sie überfahren würde. Sie fühlte das Bedürfniß, laufen und schreien zu müssen. Sie begriff bereits, warumman sie begnadigte und überraschte sich selbst beim lauten Sprechen der Worte:
»Sie haben Furcht und deshalb werden sie auch nicht diese Dinge wieder aufrühren wollen. Ich war ein Schaf, mich so zu foltern … Das ist ganz klar. O, welch’ Glück, gerettet, diesmal wirklich gerettet zu sein! … Gleichviel, meinen Mann will ich doch erschrecken, damit er sich ruhig verhält … Gerettet, gerettet, o welches Glück!«
Als sie die Rue Saint-Lazare betrat, sah sie nach der Uhr eines Bijouterieladens, es fehlten noch zwanzig Minuten an sechs.
»Halt, ich habe noch Zeit, ich werde mir noch etwas zu gute thun.«
Sie wählte sich das eleganteste Restaurant gegenüber dem Bahnhof und in diesem ein einladendes Tischchen direct hinter der großen Spiegelscheibe aus, so daß sie vergnügt das bunte Treiben auf der Straße beobachten konnte. Dann bestellte sie sich ein feines Diner, bestehend aus Austern, einem Rostbraten und einem am Spieß gebratenen Huhn. Es war doch das Mindeste, daß sie sich für das schlechte Frühstück entschädigte. Sie kam vor Hunger fast um und aß daher hastig, sie fand das Schwarzbrod ausgezeichnet und ließ sich noch eine süße Speise bereiten. Dann schlürfte sie ihren Kaffee und stürmte fort. Denn es fehlten nur noch einige Minuten bis zum Abgange des Schnellzuges.
Als Jacques sie verlassen, hatte er sein Kämmerchen aufgesucht, um seine Arbeitskleider anzulegen, dann war er sofort in das Depot gegangen, wo er gewöhnlich erst eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges zu erscheinen pflegte. Er hatte sich die Sorgen der Visitation der Maschine vom Halse geschafft und sie seinem Heizer Pecqueux aufgeladen, obwohl derselbe dreimal oder zweimal betrunken zu sein pflegte. Aber in der verliebten Erregung des heutigen Tages verspürte er doch so etwas wie Unruhe. Er wollte sich lieber persönlich von dem guten Functioniren aller Theile seiner Maschine überzeugen, um so mehr, als er des Morgens in Havre bemerkt zu haben glaubte, daß die Lokomotive für eine geringe Arbeit unverhältnißmäßig viel Kraft gebrauche.
In dem mächtigen geschlossenen, von der Kohle geschwärzten und von hohen, staubbedeckten Fenstern erhellten Schuppenstand unter anderen, in Ruhestand versetzten Lokomotiven auch die Jacques’ als vorderste auf dem
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