Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
heiter zurück.
    Die Thüren klappten, Séverine hatte gerade noch Zeit, ein Koupee zu besteigen. Der Zugführer gab das Signal, Jacques pfiff und öffnete den Regulator. Man dampfte ab, in derselben Weise wie an jenem tragischen Februarabend, zu derselben Zeit, inmitten desselben lebhaften Treibens auf dem Bahnhofe, desselben Lärms, desselben Qualms. Nur war es diesmal noch Tag, ein durchsichtiges Halbdunkel von sommerlicher Milde. Den Kopf an dem Schlage blickte Séverine hinaus.
    Und auf der Lison hoch aufgerichtet stand Jacques, warm eingehüllt in ein wollenes Beinkleid und eine Friesjacke, die am Hinterkopfe unter der Mütze zusammengebundene Brille mit Tuchlappen vor den Augen. Sein Blick verließ nicht mehr die Geleise und fast alle Sekunden beugte er sich aus dem Fenster des Schutzdaches hinaus, um besser sehen zu können. Er fühlte nicht, daß das Erzittern der Maschine ihn grausam durchrüttelte, seine Rechte hatte die Kurbel des Fahrtregulators erfaßt wie der Steuermann das Rad gepackt hält; unausgesetzt manövrirte er und unmerklich verstärkte oder schwächte er die Schnelligkeit, mit der linken Hand zog er fast unaufhörlich das Ventil der Dampfpfeife, denn die Ausfahrt aus Paris ist schwierig, man stößt leicht auf unvorherzusehende Hindernisse. Er pfiff bei den Niveauübergängen, bei den Bahnhöfen, bei den Tunnels, bei den großen Kurven. Fern in der beginnenden Dämmerung zeigte sich ein rothes Signal, er begehrte durch einen langgedehnten Pfiff freie Fahrt und jagte wie ein Donner vorüber. Kaum gönnte er sich die Zeit, ab und zu einen Blick auf den Atmosphärenmesser zu werfen; sobald der Druck zehn Kilogramm erreichte, drehte er die kleine Injectionskurbel. Sein Blick weilte immer weit voraus auf den Geleisen und überwachte die kleinsten Einzelheiten mit einer solchen Aufmerksamkeit, daß er nicht Anderes sah und nicht einmal den sturmwindartigen Wind spürte. Der Atmosphärenmesser fiel, er öffnete die Thür des Heizofens und stocherte mit der Kesselzange darin herum; Pecqueux, auf jeden Handgriff des Chefs geaicht, begriff, zerkleinerte mit dem Hammer die Kohle undwarf sie mit der Schippe gleichmäßig vertheilt über den ganzen Rost. Eine fürchterliche Gluth sengte fast beider Beine, gleich darauf, als die Thür geschlossen war, bestrich sie wieder der eisige Luftstrom.
    Die Nacht sank hernieder, Jacques’ Vorsicht verdoppelte sich. Er hatte die Lison selten so gehorsam gesehen wie an diesem Abend; er fühlte sich als ihren Herrn, er zügelte sie nach Gefallen mit absoluter Machtvollkommenheit, und trotzdem ließ er nicht von seiner herben Strenge, er behandelte sie wie eine gefesselte Bestie, der man nicht trauen darf. Dort, hinter seinem Rücken, sah er in dem mit voller Fahrgeschwindigkeit dahinsausenden Zuge eine feine, sich hingebende, ihm vertrauende und zulächelnde Frauengestalt. Ein flüchtiger Schauder überlief ihn, er faßte die Kurbel noch fester und seine Blicke durchdrangen noch energischer die wachsende Finsterniß, um sich über die Natur zweier rother Lichter klar zu werden. Nach dem Passiren der Abzweigungen bei Asnières und Colombes hatte er ein wenig aufgeathmet. Bis Nantes ging Alles gut, die Strecke bildete bis dorthin eine glatte Bahn, über die der Zug gemächlich rollen konnte. Hinter Nantes mußte er die Lison anfeuern, um eine fast eine halbe Meile lange Steigung zu nehmen. Dann drängte er sie, ohne sie verschnaufen zu lassen, die sanfte Steigung des zwei und einen halben Kilometer langen Tunnels von Rollebrise hinauf, den er in knapp drei Minuten passirte. Dann kam ein zweiter Tunnel, der von Noule bei Gaillon, diesseits des Bahnhofs von Sotteville, eines wegen seiner vielen sich abzweigenden Geleise, des beständigen Rangirens und seiner steten Ueberfüllung sehr gefährlichen Durchfahrtspunktes. Alle Kräfte seines Wesens waren vereinigt in den wachenden Augen und der führenden Hand. Die pfeifende, fauchende Lison durchfuhr mit vollem Dampf Sotteville und hielt erst in Rouen an; von dort aus lief sie etwas beruhigt und gemächlicher die Rampe hinauf, die bis Malaunay führt.
    Der Mond war klar und bleichschimmernd aufgegangen, sein Licht erlaubte Jacques das niedrigste Gebüsch, ja selbst die in ihrer schnellen Flucht unter ihm verschwindenden Kiesel zwischen den Schienen zu unterscheiden. Als er den Tunnel von Malaunay verließ, warf er einen Blick nach rechts; ihn beunruhigte der Schatten eines großen Baumes, der auf dieGeleise fiel. Dabei

Weitere Kostenlose Bücher