Die Bestie im Menschen
die Luft und Passanten eilten schnellen Schrittes, um Zeit zu sparen, durch den Park. Sie kamen an den Bach, wanderten zwischen den Felsen umher und schlenderten müßig zurück, bis sie bei einem Boskett von Tannen anlangten, deren dunkles Grün ihrer unvergänglichen Blätter in der Sonne glänzte. Hier in diesem abgeschlossenen Winkel, stand, den Blicken verborgen, eine Bank. Sie setzten sich, diesmal ohne zu sprechen, es war, als hätte sie der gleiche Wunsch an diese Stelle geführt.
»Es ist doch noch schön geworden,« sagte sie endlich nach längerer Pause.
»Ja,« erwiderte er, »die Sonne scheint wieder.«
Aber Beider Gedanken weilten nicht bei ihren Worten. Er, der die Frauen floh, gedachte der Ereignisse, die ihn ihr nähergebracht hatten. Hier saß sie, sie streifte ihn, sie drohte seine Existenz aus dem Gleichgewicht zu bringen und das alles überraschte ihn ungemein. Seit dem letzten Verhör in Rouen zweifelte er nicht mehr daran, daß diese Frau an dem Morde von la Croix-de-Maufras betheiligt war. Warum aber? Aus welcher Veranlassung? Unter welchen Umständen? Durch ihre Leidenschaft oder aus welchem Interesse sonst dazu getrieben? Diese Fragen hatte er sich schon wiederholt vorgelegt, ohne eine Lösung dafür zu finden. Schließlich hatte er sich folgende Geschichte zurechtgelegt: der interessirte, jähzornige Gatte hätte es eilig gehabt, die Erbschaft anzutreten, vielleicht aus Furcht, daß das Testament zu ihren Ungunsten umgestoßen werden könnte, vielleicht auch aus der Ueberlegung, seine Frau durch ein blutiges Band fester an sich knüpfen zu können. An dieser Fabel hielt er um so mehr fest, als ihre dunklen Punkte ihn ungemein anzogen und beschäftigten; es fiel ihm aber nicht ein, sie aufhellen zu wollen. Der Gedanke, daß es seine Pflicht gewesen wäre, dem Richter Alles zu sagen, hatte ihn auch sehr gepeinigt. Und gerade jetzt wieder beschäftigte ihn derselbe Gedanke, während er auf dieser Bank so dicht neben ihr saß, daß er ihren warmen Hauch über sein Gesicht streifen fühlte.
»Es ist viel, daß man im März schon, gerade wie im Sommer, im Freien sitzen kann,« sagte er.
»O,« antwortete sie, »wenn erst die Sonne höher steigt, geht das schon.«
Sie dagegen sagte sich, was muß dieser Mensch für ein Thier sein, daß er in uns nicht sofort die Schuldigen erkannt hat, Sie hatten sich zu auffällig ihm aufgedrängt, selbst in diesem Augenblick drängte sie sich zu dicht an ihn heran. Die von nichtssagenden Redensarten unterbrochenen Pausen benutzte sie, um seinem Gedankengange zu folgen. Ihre Augen waren sich begegnet und sie hatte in ihnen gelesen, daß er sich gerade überlegte, ob sie es nicht war, die er mit ihrem ganzen Gewicht auf den Beinen des Opfers als dunkle Masse hatte lasten gesehen. Was thun, was sagen, um ihn mit einem unzerreißbaren Kitt an sich zu fesseln?
»Es war heute früh sehr kalt in Havre,« setzte sie hinzu.»Und dazu der Regen, den wir abbekommen haben.«
Séverine kam in diesem Augenblick ein glücklicher Gedanke. Sie überlegte und prüfte nicht weiter. Der Gedanke schoß wie eine instinctive Eingebung aus der dunklen Tiefe ihrer Klugheit und ihres Herzens auf. Hätte sie überlegt, würde sie wahrscheinlich nichts gesagt haben. Aber sie fühlte, daß es so ginge und daß sie ihn durch ihre Worte erobern würde.
Sie ergriff sanft seine Hand und blickte ihn an. Die Bäume verbargen sie vor den Blicken der Vorübergehenden, sie hörten nur ein fernes, wie gedämpft in die Einsamkeit der sonnigen Anlagen herüberdringendes Gerassel. Und oben an der Ecke der Allee sah man ein Kind, das lautlos mit seiner Schippe Sand in einen kleinen Eimer füllte. Ohne weiteren Uebergang und ihre ganze Seele in den Ton ihrer Stimme legend, fragte sie:
»Halten Sie mich für schuldig?«
Er zitterte, seine Augen blieben in den ihren.
»Ja,« antwortete er mit demselben leisen, bewegten Tone.
Sie preßte seine Hand, die sie nicht hatte fahren lassen, noch stärker. Sie fühlte, wie das Fieber in ihren Körpern in einander floß und fuhr sogleich fort:
»Sie täuschen sich, ich bin nicht schuldig.«
Sie sagte das nicht, um ihn zu überzeugen, sondern lediglich, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie in den Augen Anderer für unschuldig gelten wollte. Es war das Geständniß einer Frau, die nein sagt mit dem Wunsche, daß es nein sei und immer nein und nein bleiben muß.
»Ich bin nicht schuldig … Peinigen Sie mich nicht länger, indem Sie mich für schuldig
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