Die Bestie im Menschen
und noch nieGefühltes, was ihn unruhig, mißtrauisch gegen sich selbst machte. Ihm war es, als hätte er Grund an ihrer ehelichen Treue zu zweifeln und daher wollte er sich überzeugen, ob sie ihm unterwegs nicht Geschichten machen würde.
Pecqueux war natürlich noch nicht da. Als er mit lallender Zunge in Folge eines mit einem Freunde eingenommenen Frühstücks erschien, stellte ihn Jacques wüthend zur Rede. Gewöhnlich vertrugen sich die beiden Männer sehr gut, eine Folge der langen Kompagnieschaft von dem einen Ende der Linie bis zum anderen, die sie schweigsam Seite an Seite, durch dasselbe Geschäft und dieselben Gefahren vereint, zubrachten. Obgleich der Maschinist zehn Jahre jünger war als sein Heizer, sorgte er für letzteren väterlich, er bemäntelte seine Laster und ließ ihn eine Stunde schlafen, wenn er zu betrunken war. Dieser vergalt ihm dieses Wohlwollen durch hündische Ergebenheit, er war im übrigen ein ausgezeichneter, in seinem Fache ergrauter Arbeiter, sah man von seiner leidenschaftlichen Trunksucht ab. Auch er liebte die Lison, ein Grund mehr für ihr gutes Einvernehmen. Die Beiden und die Lokomotive bildeten in der That ein friedfertiges, eheliches Trio. Pecqueux war überrascht von dem schlechten Empfange seitens Jacques’, noch mehr erstaunte er aber, als er dessen Zweifel an der Lison vernahm.
»Aber sie läuft doch wie eine Fee!«
»Nein, ich bin besorgt.«
Und trotz des guten Zustandes, in welchem sich jeder einzelne Bestandtheil befand, fuhr er mit Kopfschütteln fort. Er ließ die Griffe klappen und probirte die Ventile. Er stieg auf die Plattform und füllte selbst die Schmierkolben der Cylinder, während der Heizer den Dom putzte, an welchem noch leichte Rostflecke sichtbar waren. Er konnte wirklich beruhigt sein. Und der wahre Grund seiner Unruhe? In seinem Herzen thronte nicht mehr die Lison allein. Ein zweites zärtliches Gefühl wuchs dort auf für jenes schmächtige, zerbrechliche Geschöpf, das er noch immer auf der Bank in den Anlagen neben sich sitzen und in seiner trägen Schwäche seinem Verlangen nach Liebe und Schutz Ausdruck geben sah. Noch nie hatte er, wenn der Zug sich ohne sein Verschulden verspätete und er seiner Lokomotive eine Geschwindigkeitvon achtzig Kilometern geben mußte, an die Gefahren gedacht, welche die Reisenden möglicher Weise liefen. Heute aber, nun er diese, am Morgen noch fast verabscheute und mit Widerwillen nach Paris gebrachte Frau nach Havre zurückführen sollte, peinigte ihn die Furcht vor einem Unfall, daß sie durch seine Schuld verwundet werden und in seinen Armen ihr Leben aushauchen könnte. Jetzt war er mit Liebe geladen. Die beargwöhnte Lison mußte sich von nun an zusammen nehmen, wollte sie ihren guten Ruf als zuverlässige Maschine in seinen Augen sich erhalten.
Es schlug sechs, Jacques und Pecqueux bestiegen die schmale Brücke aus Eisenblech, welche den Tender mit der Lokomotive verbindet; der letztere öffnete auf einen Wink seines Vorgesetzten die Abzugsventile und ein Wirbel weißen Dampfes füllte zischend den Schuppen. Dann glitt die Lison gehorsam der Drehung des Regulators hervor aus dem Depot und pfiff, um sich den Strang öffnen zu lassen. Gleich darauf verschwand sie im Tunnel von Les Batignolles. Am Pont de l’Europe mußte sie sich etwas gedulden, bis es Zeit war, sie auf den sechs Uhr dreißig Eilzug zu rangiren, mit welchem sie dann von zwei Arbeitern solide verbunden wurde.
Fünf Minuten fehlten nur noch bis zur Abfahrt. Jacques beugte sich über die Brüstung; er wunderte sich, Séverine in dem Strom der Reisender nicht auftauchen zu sehen. Er war überzeugt, daß sie nicht eher einsteigen würde, bis sie ihn gesprochen hatte. Endlich erschien sie verspätet, fast laufend. Richtig, sie eilte am Zuge entlang und blieb mit lebhaft geröthetem Gesichte und glückselig bei der Lokomotive stehen.
Die kleinen Füße und das lachende Gesicht hoben sich zu ihm empor.
»Beunruhigen Sie sich nicht, da bin ich.«
Er lachte ebenfalls in dem Gefühl des Glücks, sie wiederzusehen.
»Es ist gerade noch Zeit,«
Sie reckte sich noch weiter empor und sagte, etwas leiser: »Ich bin zufrieden, sehr zufrieden, mein Freund … Ich habe viel Glück gehabt … Ich habe alles erreicht, was ich gewollt.«
Er begriff und zeigte sich sehr erfreut. Im Davoneilen wandte sie sich noch einmal nach ihm um und rief scherzend:»Sie werden mir doch hoffentlich nicht die Knochen zerbrechen?«
»Haben Sie keine Furcht,« gab er
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