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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ein, daß sie noch nicht gerettet war. Sie erbleichte, ihre Lippen erzitterten.
    »Aber Sie wollten doch den Depotchef sprechen?« fragte Jacques, der ebenfalls aufgestanden war, um ihr wieder seinen Arm anzubieten.»Um so schlimmer. Ich werde ihn ein anderes Mal besuchen … Hören Sie, lieber Freund, ich kann Sie jetzt nicht mehr gebrauchen, lassen Sie mich den Weg schleunigst allein machen. Und vielen Dank, nochmals herzlichen Dank.«
    Sie drückte ihm die Hand und enteilte.
    »Pünktlich zum Zuge!«
    »Ganz pünktlich.«
    Schon war sie schnellen Schrittes hinter den Gebüschen der Anlagen verschwunden, er dagegen schlenderte langsam der Rue Cardinet zu.
    Herr Camy-Lamotte hatte inzwischen eine lange Unterredung mit dem Betriebsdirector der Westbahn-Gesellschaft in seinem Cabinet gehabt. Er hatte ihn unter dem Vorwande, etwas mit ihm besprechen zu müssen, zu sich entboten und nach und nach ihm das Geständniß entlockt, wie sehr dieser Prozeß Grandmorin die Gesellschaft ärgere. Da gäbe es Klagen in den Zeitungen darüber, wie schlecht es mit der Sicherheit der Reisenden erster Klasse bestellt wäre; das ganze Personal sei in die Sache verwickelt, mehrere Beamte verdächtigt worden außer dem am meisten beargwöhnten Roubaud, der jeden Augenblick eingelocht werden könnte. Die Gerüchte von der Sittenlosigkeit des Präsidenten, der ein Mitglied ihres Aufsichtsrathes gewesen war, müßten naturgemäß auch auf die übrigen Mitglieder dieser Körperschaft ein schlechtes Licht werfen. Und so wäre es gekommen, daß ein vermuthlich von dem unbedeutenden Unter-Inspector begangenes geheimnißvolles Verbrechen niedrigster Art eine kolossale Störung in dem Räderwerk der mächtigen Eisenbahnbetriebsmaschine hervorzubringen drohe und auch die höchste Verwaltung darunter leiden mache. Diese Erschütterung ziehe ihre Kreise sogar noch höher hinauf, beschäftige das Ministerium und bedrohe angesichts der augenblicklichen unglücklichen politischen Constellation die Regierung, in einer kritischen Stunde den großen socialen Körper, dessen Zersetzung ein so unbedeutendes Fieber leicht herbeiführen und beschleunigen könnte. Als Herr Camy-Lamotte endlich von seinem Besuche erfuhr, daß die Gesellschaft gerade heute die Entlassung Roubaud’s beschlossen hätte, lehnte er sich eifrig gegen eine solche Maßregel auf. Nichts sei ungeschickter nach seiner Meinung, als dieses; der Lärm in der Presse würde sich sofort verdoppeln, jedes Oppositionsblattwürde sich ein besonderes Vergnügen daraus machen, Roubaud als ein Opfer der Politik hinzustellen. Der offenbare Riß wäre da und Gott weiß, was für unangenehme Entdeckungen dabei sowohl für die Einen wie für die Andern zu Tage kommen würden. Der Skandal hätte schon zu lange gedauert, es sei nunmehr die höchste Zeit, daß darüber geschwiegen würde. Und der bald überzeugte Betriebsdirector verpflichtete sich, dafür zu sorgen, daß Roubaud im Amte belassen, ja selbst nicht einmal aus Havre versetzt werde. Man würde dann bald einsehen, daß es in ihrer Gesellschaft keine unlauteren Elemente gäbe. Damit würden die Acten über diese Geschichte geschlossen sein.
    Als Séverine athemlos und heftig klopfenden Herzens wieder vor Herrn Camy-Lamotte in dem düsteren Cabinet stand, betrachtete dieser sie einen Augenblick schweigend. Ihn interessirte ihre außerordentliche Anstrengung, ruhig zu erscheinen. Diese zarte Verbrecherin mit ihren Nixenaugen war ihm entschieden eine sympathische Erscheinung.
    »Ich habe soeben …«
    Er hielt inne, um sich noch einige Sekunden an ihrer Angst zu werden. Aber ihr Blick flog so eindringlich zu ihm hinüber, er fühlte ihr ganzes Wesen sich so leidenschaftlich zu ihm drängen, daß er sich ihrer erbarmte.
    »Ich habe soeben den Betriebsdirector gesprochen, Frau Roubaud, und von ihm die Zusicherung erhalten, daß Ihr Mann nicht entlassen wird … Die Angelegenheit ist somit geordnet.«
    Die Woge der übermäßigen Freude, die sich über sie in diesem Augenblick ergoß, machte sie fast taumeln. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie konnte nichts sagen, nur lächeln.
    Er wiederholte den letzten Satz, als wollte er ihr noch einmal seine Bedeutsamkeit so recht an’s Herz legen:
    »Die Angelegenheit ist somit geordnet … Sie können unbesorgt nach Havre zurückreisen.«
    Sie verstand ihn sehr wohl: er meinte, man würde sie nicht verhaften, sie seien begnadigt worden. Aus seinen Worten ging hervor, nicht nur, daß ihr Mann im Amt

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