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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Allmählich gewann doch die Bequemlichkeit wieder Macht über sie, sie überließ die Sorgen um die Wirtschaft abermals der Mutter Simon und beschäftigte sich wie eine vornehm erzogene junge Dame mit feinen Handarbeiten. Sie hatte eine unendliche Arbeit begonnen, eine gestickte vollständige Fußdecke, die sie allem Anscheine nach für ihr ganzes Leben zu beschäftigen drohte. Sie erhob sich ziemlich spät und fühlte sich unendlich glücklich, einsam im Bett zu bleiben, gewiegt von dem Lärm der ankommenden und abfahrenden Züge, die ihr wie eine Uhr so genau die Zeit anzeigten. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte dieser fürchterliche auf die Nerven wirkende Bahnhofslärm, das Pfeifen, das Anprallen der Puffer, das Donnerartige, die jähen, den Erdbeben gleichen Erschütterungen, die sie zugleich mit ihren Möbeln zittern machten, ihr garnicht gefallen wollen. Allmählig aber hatte sie sich daran gewöhnt, dieser von sonoren Vibrationen heimgesuchte Bahnhof floß in ihr eigenes Leben über. Und jetzt schmeichelte ihr sogar dieses Leben und dieser Lärm desselben, er verschaffte ihr die Ruhe. Bis zum Frühstück trollte sie sich von einem Zimmer in das andere, ohne selbst zuzugreifen plauderte sie dabei mit der Aufwartefrau. Die langen Nachmittage brachte sie gewöhnlich auf einem Stuhle am Fenster des Eßzimmers zu, meist aber ruhte ihre Arbeit müßig im Schoße, sie war glücklich, nichts thun zu brauchen. In den Wochen, in denen ihr Mann schon frühzeitig zu Bett ging, hörte sie bis zum Abend sein Schnarchen mit an; dann aber kamen für sie auch die guten Wochen, indenen sie lebte wie vor ihrer Verheirathung, in denen sie sich nach Gefallen in dem breiten Bett ausstrecken konnte und den ganzen Tag für sich hatte. Sie ging fast nie aus, von Havre sah sie nur die hohen Fabrikschornsteine, deren dicke schwarze Rauchwirbel oberhalb des einige Meter weit vor ihr jede Fernsicht abschneidenden Zinkdaches der Halle zum Himmel strebten. Dort hinter dieser ewigen Mauer lag die Stadt; sie spürte deren Nähe, aber daß sie sie nicht sehen konnte, hatte sie lange Zeit verdrießlich gestimmt. Fünf oder sechs Töpfe mit Nelken oder Eisenkraut, die sie in dem Abflußrohr des Daches aufzog, bildeten ihr kleines Gärtchen und verschönten ihre Einsamkeit. Sie verglich ihre Wohnung oft mit einer tief im Walde gelegenen Einsiedlerklause, Roubaud lehnte nur in den freien Viertelstunden aus dem Fenster. Hatte er länger Zeit, so stieg er auf das Dach, ging bis ans Ende desselben, stieg dort bis zur Kuppel empor und ließ sich in luftiger Höhe direct über den Napoleonskanal nieder, um sein Pfeifchen zu rauchen. Tief unter ihm lag ausgebreitet die Stadt mit ihrem Mastenwald in den Bassins und sein Blick überflog das unermeßliche, im fahlen Grün heraufschimmernde Meer.
    So vergingen Wochen ungestörtester Ruhe, es schien, als ob derselbe Halbschlummer auch die anderen, den Roubaud benachbarten Ehepaare gefangen hielt. Dieser Corridor, in welchem gewöhnlich ein so fürchterlicher Klatschwind pfiff, schlummerte ebenfalls. Wenn Philomène Frau Lebleu einen Besuch abstattete, hörte man kaum das leise Gemurmel ihrer Stimmen. Beide waren von der Wendung der Dinge nicht wenig überrascht und sprachen deshalb von dem Unter-Inspector nur mit einem verächtlichen Achselzucken: es war für sie eine ausgemachte Thatsache, daß seine Frau in Paris die Schöne gespielt habe, um ihres Mannes Stellung zu sichern, dem es im Uebrigen schwer werden sollte, sich von dem auf ihm ruhenden Verdacht rein zu waschen. Und da die Frau des Kassierers überzeugt war, daß es dem Roubaud jetzt nicht mehr möglich war, sie aus ihrer Wohnung zu vertreiben, so bezeugte sie diesen ihre volle Verachtung dadurch, daß sie ohne Gruß stolz an ihnen vorüberschritt. Dieser Stolz empörte sogar Philomène, dieser zu sehr zur Schau getragene Hochmuth der Kassierersfrau beleidigte selbst sie. Frau Lebleu’sHauptbeschäftigung nach wie vor war das Auflauern der Billetverkäuferin, Fräulein Guichon, deren Beziehungen zu Herrn Dabadie aufzudecken ihr indessen noch immer nicht gelang. Man hörte in dem ganzen großen Corridor nur noch das fast unvernehmbare Schlurfen ihrer weichen Pantoffeln. Und so verging ein voller Monat in diesem tiefen, allmächtigen Frieden, wie er nach großen Katastrophen ja meistens einzutreten pflegt.
    Aber ein beunruhigendes, schmerzliches Etwas war den Roubaud doch geblieben. Und dieses Etwas war eine Stelle des Fußbodens im Eßzimmer.

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