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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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erkannte er den verborgenen Winkel, das mit Dickicht bestellte Feld, von welchem aus er den Todtschlag erblickt hatte. Die wüste, wilde Gegend mit ihren Abhängen, ihren schwarzen Waldparzellen und ihrer trostlosen Oede flog an ihm vorüber. Dann tauchte im Schimmer des unbeweglich scheinenden Mondes das Haus von la Croix-de-Maufras in seiner wüsten Verlassenheit mit den ewig geschlossenen Fensterläden und seiner abscheulichen Melancholie wie eine Vision vor ihm auf. Und ohne zu wissen, warum, fühlte er diesmal noch mehr als je seine Brust beengt, als streifte er hier hart an seinem Unglück vorüber.
    Doch ebenso schnell erfaßten seine Augen ein anderes Bild. Dort neben dem Bahnwärterhäuschen Misard’s, an die Barriere des Niveauüberganges gelehnt, stand Flore. Er sah sie, so oft er vorüberfuhr, an derselben Stelle auf ihn warten, Sie bewegte sich nie, sie erhob nur den Kopf und folgte so lange sie konnte mit ihren Blicken seiner blitzartigen Weiterfahrt. Ihre schwarze Silhouette hob sich haarscharf von dem hellen, mondbeschienenen Hintergrunde ab, nur ihre blonden Haare blitzten golden, wie das bleiche Gold des Gestirns.
    Und abermals trieb Jacques die Lison an, um die Steigung von Motteville zu nehmen, dann ließ er sie ein wenig längs des Plateaus von Bolbec verschnaufen. Dann stieß er sie zwischen Saint Romain und Harfleur auf die stärkste, drei Meilen lange Steigung der Linie, welche die Lokomotiven wie den Stall witternde Thiere im Galopp zu nehmen pflegen. Fast umsinkend vor Müdigkeit erreichte er Havre und hier unter dem Glasdache der vom Lärm und Rauch der Ankunft erfüllten Halle näherte sich ihm Séverine, ehe sie ihre Wohnung aufsuchte. Freudig erregt und mit zärtlichem Lächeln sagte sie zu ihm:
    »Besten Dank, bis auf morgen.«
     

Sechstes Kapitel
    Ein Monat verstrich. In der Wohnung der Roubaud in der ersten Etage des Bahnhofs über den Wartesälen herrschte tiefe Stille. Bei ihnen, wie bei ihren Flurnachbarn verlief das tägliche Leben wieder monoton, ganz nach dem Zeiger, der ihre Thätigkeit regelte und unerbittlich vorschrieb. Es schien nichts Außerordentliches oder gar Schreckliches geschehen zu sein.
    Die skandalöse und lärmende Geschichte Grandmorin wurde allmählich vergessen; die Justiz schien nicht im Stande zu sein, den wahren Schuldigen ausfindig zu machen und so wurden die Acten ohne Weiteres klassificirt. Nach einem Arrest von noch vierzehn Tage hatte Herr Denizet Cabuche wieder aus der Untersuchungshaft entlassen mit der Motivirung, daß gewichtige Beschuldigungen gegen ihn nicht vorlägen. Eine romantische Polizistenlegende begann sich herumzusprechen: die von dem unbekannten und unfaßbaren Mörder, einem Abenteurer des Verbrechens, der bei jedem Verbrechen zugegen und desselben verdächtig war, aber sich in Nichts auflöste, sobald die Polizeiagenten in seine Nähe kamen. Selbst in der Oppositionspresse, die jetzt mit den nahe bevorstehenden allgemeinen Wahlen vollauf zu thun hatte, erschienen nur noch hin und wieder einige spitzige Sticheleien betreffs des nebelhaften Mörders. Der Druck der Gewalt, die Uebergriffe der Präfecten versorgten sie täglich mit Material für empörte Artikel. Und seit die Zeitungen sich nicht mehr mit dem Vorfalle beschäftigten, war auch die leidenschaftliche Neugier des Publikums verraucht. Man sprach nicht einmal mehr davon.
    Die glückliche Beseitigung der zweiten Befürchtung, daß das Testament des Präsidenten Grandmorin angegriffen werdenkönnte, hatte den Roubaud namentlich die Ruhe zurückgegeben. Auf den Rath der Frau Bonnehon hin waren die Lachesnaye endlich von der Anfechtung des Testaments abgestanden. War doch auch der Ausgang ein sehr Ungewisser. Und dann fürchteten sie besonders, daß der Skandal von Neuem losgehen würde. So kam es, daß seit einer Woche die Roubaud die Eigenthümer von la Croix-de-Maufras waren, ein Besitz, der einschließlich Haus und Garten auf vierzigtausend Franken geschätzt wurde. Sie hatten sich unverzüglich entschlossen, dieses Sünden- und Mordhaus zu veräußern, das ihre Brust wie ein Alpdrücken beengte, in dem sie nimmermehr zu schlafen gewagt haben würden, aus Furcht, die Gespenster der Vergangenheit erblicken zu müssen. Und mit dem ganzen Mobiliar,
en bloc
sollte es verkauft werden, so wie es da stand, ohne vorherige Reparatur, selbst ohne vorausgegangene Säuberung. Da sie bei einer öffentlichen Licitation zu viel verloren hätten, Liebhaber eines Ruhesitzes aber nur sehr

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