Die Bestie von Florenz
Brunelleschi erbaute Renaissance-Kirche genoss. Als wir die Wohnung betraten, hatten wir das Gefühl, zu einer Beerdigung zu kommen; unsere italienischen Freunde traten vor und umarmten uns, einer nach dem anderen, manche mit Tränen in den Augen, und sprachen uns ihr Beileid aus. Die Stimmung blieb auch den Abend über ernst, und am Ende rezitierte eine Freundin, die an der Universität von Florenz Griechisch unterrichtete, Konstantinos Kaváfis’ Gedicht »Die Barbaren erwartend«. Sie las es erst im griechischen Original und dann auf Italienisch vor. Das Gedicht beschreibt, wie die Römer gegen Ende des Imperiums darauf warten, dass die Barbaren kommen, und die letzten Zeilen, die sie an jenem Abend vorlas, habe ich bis heute nicht vergessen:
… wurde Nacht, und die Barbaren kamen nicht.
Leute aus dem Grenzland trafen ein,
die sagten, dass es Barbaren nicht mehr gibt.
Was soll nun aus uns werden ohne sie?
Diese Menschen waren auch eine Art Lösung.
Wie ich erwartet hatte, strich The New Yorker den Artikel über die Bestie, zahlte uns aber großzügigerweise das vereinbarte Honorar und gab uns die Rechte an dem Text zurück, damit wir ihn anderswo veröffentlichen konnten. Ich unternahm ein paar halbherzige Versuche bei anderen Magazinen, doch so kurz nach dem 11. September interessierte sich niemand für die Geschichte einer lange zurückliegenden Mordserie in einem fremden Land.
In den Tagen und Wochen nach dem 11. September dozierten viele Kommentatoren im Fernsehen und in der Presse über die Natur des Bösen. Literarische und kulturelle Instanzen wurden darum gebeten, ihre tiefschürfenden und wohldurchdachten Ansichten mitzuteilen. Politiker, Geistliche und Psychologen ließen sich wortreich über das Thema aus. Ich fand es frappierend, wie vollkommen sie mit ihren Versuchen scheiterten, dieses mysteriöse Phänomen zu erklären. In mir erwachte das Gefühl, dass gerade die Unbegreiflichkeit des Bösen einer seiner Grundzüge sein könnte. Man kann dem Bösen nicht ins Auge sehen; es hat keine Augen, kein Gesicht. Es hat keinen Körper, keine Knochen, kein Blut. Jeder Versuch, es zu beschreiben, muss in Schwafelei und Selbsttäuschung enden. Vielleicht, dachte ich, haben die Christen deshalb den Teufel erfunden und Bestien-Ermittler einen Satanskult. Beide waren, wie es in dem Gedicht hieß, »eine Art Lösung«.
Während dieser Zeit begann ich auch zu verstehen, weshalb ich so von der Bestie besessen war. Seit zwanzig Jahren schrieb ich Thriller, die sich um Mord und andere Gewalttaten drehten, und in all diesen Jahren hatte ich versucht, das Böse im Kern zu erfassen – und war größtenteils gescheitert. Die Bestie von Florenz zog mich magisch an, weil sie ein Pfad war, der in diese Wildnis hineinführte. Der Fall war die reinste Destillation des Bösen, die mir je begegnet war, auf vielerlei Ebenen. Da war das Böse in Gestalt der wahnsinnigen Morde eines zutiefst gestörten menschlichen Wesens. Doch bei dem Fall ging es auch um andere Spielarten des Bösen. Manche der Ermittler, Staatsanwälte und Richter, betraut mit der heiligen Verantwortung, die Wahrheit herauszufinden, schienen sich mehr dafür zu interessieren, durch diesen Fall Macht und persönlichen Ruhm zu erlangen. Sie hatten sich auf eine fehlerhafte Hypothese festgelegt und weigerten sich, ihre Überzeugungen zu hinterfragen, wenn sie mit gegenteiligen, überwältigend starken Indizien konfrontiert wurden. Es war ihnen wichtiger, das Gesicht zu wahren, als Leben zu retten, wichtiger, ihre Karriere voranzutreiben, als die wahre Bestie hinter Gitter zu bringen. Um das unbegreifliche Böse der Bestie hatten sich zusätzliche Schichten von Lügen, Eitelkeit, Ehrgeiz, Arroganz, Inkompetenz und Schwäche gelegt. Die Verbrechen der Bestie waren wie metastasierende Krebszellen, die sich vom Blutstrom in irgendeine weiche, dunkle Ecke treiben ließen und sich dort teilten, vermehrten, zum Tumor wurden, der seine eigenen Blutgefäße und Kapillaren ausbildet, um sich zu ernähren, anzuschwellen, zu wuchern und schließlich zu töten.
Ich wusste, dass Mario Spezi bereits mit dem Bösen zu kämpfen gehabt hatte, das ihm in dem Bestien-Fall begegnet war. Eines Tages fragte ich ihn, wie er mit dem Grauen der ganzen Geschichte umgegangen war – mit dem Bösen, das auch mir nun spürbar zu schaffen machte.
»Niemand verstand das Böse besser als Bruder Galileo«, erklärte er mir. Das war der Franziskanermönch und Psychoanalytiker, an den er sich
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