Die Bestie von Florenz
gewandt hatte, als das Grauen des Falls ihn zu überwältigen drohte. Bruder Galileo lebte nicht mehr, aber Mario behauptete immer noch voller Dankbarkeit, dass der Mönch ihm während der Zeit der Bestien-Morde das Leben gerettet habe. »Er hat mir geholfen, zu verstehen, was jenseits des Verständlichen liegt.«
»Weißt du noch, was er zu dir gesagt hat?«
»Das kann ich dir ganz genau sagen, Doug. Ich habe es mir aufgeschrieben.«
Er kramte seine Notizen von der Sitzung hervor, in der Bruder Galileo über das Böse gesprochen hatte, und las sie mir vor. Der alte Mönch hatte die Sitzung mit einem sehr eindrucksvollen Wortspiel begonnen; es beruhte darauf, dass das italienische Wort male sowohl »das Böse« als auch »Krankheit« bedeutet und dass discorso »Gespräch« und »Vortrag, Lehre« in einem Wort zusammenfasst.
»›Pathologie‹ kann man als discorso sul male (Lehre von der Krankheit/vom Bösen) definieren«, sagte Bruder Galileo. »Ich definiere sie lieber als male che parla (das Böse/die Krankheit, die spricht). Dasselbe gilt für die Psychologie, welche man als ›Lehre von der Psyche‹ definiert. Ich hingegen spreche lieber von ›der Lehre von der Psyche, die sich bemüht, sich über ihre eigenen neurotischen Störungen hinweg verständlich zu machen‹.
Es gibt zwischen uns keine wahre Kommunikation mehr, weil unsere Sprache selbst krank ist, und die Krankheit unserer Rede trägt uns unvermeidlich weiter zur Krankheit in unseren Körpern, zur Neurose, wenn nicht gar zur Geisteskrankheit. Wenn ich nicht mehr über Sprache kommunizieren kann, spreche ich durch Krankheit. Meine Symptome gewinnen ein Eigenleben. Sie drücken das Bedürfnis meiner Seele aus, gehört zu werden und sich verständlich zu machen, was sie aber nicht kann, weil mir die Worte fehlen und weil jene, die zuhören sollten, nicht über den Klang ihrer eigenen Stimme hinauskommen. Die Sprache der Krankheit ist am schwersten zu übersetzen. Sie ist eine extreme Form von Erpressung, die sich all unseren Versuchen widersetzt, Lösegeld zu zahlen und sie damit loszuwerden. Sie ist ein letzter Versuch der Kommunikation. Geisteskrankheit liegt ganz am Ende dieses Kampfes darum, gehört zu werden. Sie ist die letzte Zuflucht einer verzweifelten Seele, die schließlich begriffen hat, dass niemand zuhört oder jemals zuhören wird. Wahnsinn ist die Aufgabe aller Versuche, verstanden zu werden. Er ist ein einziger, endloser Schmerzensschrei, ein Schrei um Hilfe in die absolute Stille und Gleichgültigkeit der Gesellschaft hinein. Er ist ein Schrei ohne Echo. Dies ist das Wesen des Bösen, auch der Bestie von Florenz. Und dies ist das Wesen des Bösen in jedem Einzelnen von uns. Wir alle tragen eine Bestie im Inneren; der Unterschied ist graduell, nicht grundsätzlich.«
Mario war am Boden zerstört, weil unser Artikel es nirgends in den Druck schaffte. Das war ein schwerer Schlag für ihn, der sich sein Leben lang darum bemüht hatte, die Bestie zu entlarven. Enttäuschung und Frustration verstärkten jedoch eher seine Besessenheit. Ich wandte mich anderen Dingen zu. In diesem Jahr begann ich mit der Arbeit an einem neuen Thriller, Burn Case – Geruch des Teufels , mit meinem Partner Lincoln Child. Wir beide hatten gemeinsam eine Reihe von Bestsellern um einen FBI-Ermittler namens Pendergast geschrieben. Burn Case spielt teilweise in der Toskana und handelt unter anderem von einem Serienmörder, satanischen Ritualen und einer verschollenen Stradivari. Die Bestie von Florenz war tot, und ich begann den Kadaver für meine Romane auszuweiden.
Eines Tages spazierte ich durch Florenz und kam an einer winzigen Werkstatt vorbei, in der handgebundene Bücher hergestellt wurden. Das brachte mich auf eine Idee. Ich ging nach Hause, druckte unseren Bestien-Artikel im Oktavformat aus und brachte ihn zum Binden dorthin. Der Inhaber des Ladens fertigte zwei Exemplare an, von Hand gebunden und mit Florentiner Leder bezogen, mit marmorierten Vorsatzblättern. Auf die Buchdeckel wurden in Gold der Titel, unsere Namen und die Florentiner Lilie geprägt.
DIE BESTIE VON FLORENZ
von Spezi/Preston
Ich hielt eine signierte, numerierte Auflage von zwei Stück in Händen. Bei unserem nächsten gemeinsamen Abendessen bei Spezi zu Hause, als wir am Tisch auf der Terrasse saßen und den Blick über die Hügel von Florenz genossen, überreichte ich ihm Exemplar Nummer eins. Er war beeindruckt. Er drehte das Buch hin und her und bewunderte die Goldprägung
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