Die Bestie
zur Felskante zurück. Er brauchte lange Minuten, um die Klinge mit seinen gebundenen Händen so zu manipulieren, daß er damit die Fesseln um seine Handgelenke durchschneiden konnte. Doch als die Arbeit getan war, fühlte er sich besser und zuversichtlicher, und zum ersten Mal kam der Gedanke, daß die Dinge vielleicht doch noch einen guten Ausgang nehmen würden.
Er wartete wertvolle Minuten, um die Zirkulation in seinen Händen und Fingern wiederherzustellen; und dann ...
»Komm jetzt herauf!« befahl er dem Neandertaler.
Der Große Trottel kletterte Hand über Hand bis wenige Zentimeter unterhalb der Felskante herauf. »Halt!« kommandierte Pendrake.
Der andere verharrte unruhig. »Was hast du vor?« keuchte er.
Pendrake sagte: »Wickle das Seil so um deinen Leib, daß es dich trägt, ohne daß du die Hände benützen mußt.«
Eilfertig kam der Große Trottel der Aufforderung nach und schlang und knotete das Seil um sich, bis er wie in einem Sitz saß.
»Jetzt halte deine Arme hoch. Ich werde dir die Hände binden«, sagte Pendrake.
Als das getan war, meinte Pendrake langsam: »In Ordnung, Großer Trottel. Ich werde dir jetzt die Entscheidungsfrage stellen: Was ist mit meiner Frau geschehen?«
Der Affenmensch keuchte schwer. »Sie ist wohlauf und in bester Verfassung, Freund«, murmelte er. »Devlin hat sie damals an jenem Tag, als er mit seinen Männern angriff, aus meiner Bude herausgeholt. Man sagt, daß ein Kerl ihr den Hof macht, aber sie wartet anscheinend noch immer auf dich. Sie hat gesagt, daß nichts auf der Welt einen Burschen wie Jim Pendrake umbringen könnte.«
Ein warmer Schein breitete sich in Pendrakes Innern aus. »Echt Eleanore«, dachte er. Laut sagte er: »Großer Trottel, ich werde dich jetzt heraufziehen und dann zur Siedlung bringen.«
»Du wirst mich doch nicht den Kerlen dort so gefesselt ausliefern?« Der Neandertaler starrte ihn erschrocken an.
»Ich werde dich niemandem ausliefern«, entgegnete Pendrake geduldig. »Wir werden deine Stockade niederreißen und dir einen Platz in der Gemeinschaft geben. Große, zähe Muskelprotze wie du sind schon oft die besten Bürger geworden.«
Als er den Mann über die Felskante in Sicherheit zog, dachte er unwillkürlich, daß der Mensch überall in der Welt doch noch im Ringen mit seinem primitiven Erbgut begriffen war. Irgendwie war es im riesigen Maßstab der internationalen Koexistenz und in der Arena der nationalen Kräfte fast unmöglich, die wilde Bestie im Menschen zu bändigen. Doch hier, in der engbegrenzten Welt einer kleinen Volksgruppe, ließ es sich vielleicht bewerkstelligen – wenn der Weg zur Erde offengehalten wurde und wenn jemand im geheimen mit der Erde in Verbindung blieb, beispielsweise über Anrellas Gruppe.
Es gab viele Wenn. Und weil er zum einen von Zweifeln erfüllt war, die aus dem Wissen entstanden, daß der Mensch nirgendwo sonst diese Probleme erfolgreich gelöst hatte, und weil er zum anderen hier auf dem Mond keinen ebensolchen Fehlschlag haben wollte, blieb Pendrake mit seinen Gefangenen in der Kaverne mit dem konzentrierten blauen Licht und dem durchsichtigen Würfel stehen, in dem das Mondvolk den ihm verbliebenen Teil seines eigenartigen Lebens verbrachte.
Stumm sprach er in das Zentrums des Feuerballs. »Tue ich das Richtige?«
Er seufzte vor Enttäuschung, als die Antwort in sein Gehirn kam: »Freund, das Universum der Illusionen, zu dem du dich bekannt hast, hat nichts Richtiges.«
Pendrake versuchte es noch einmal: »Aber es muß doch eine relative Abstufung der Richtigkeit geben. Verhalte ich mich innerhalb des begrenzten Rahmens, in dem ich mich bewege, klug und sinnvoll?«
»Das materielle Universum«, lautete die Erwiderung, »ist ein momentaner Versuch einer Differenzierung. Doch die grundlegende Wahrheit ist, daß es keine Differenzierung gibt. Jedes ist jedem gleich.«
Das kam für Pendrake wie ein Schock. Er sagte in grenzenloser Überraschung: »Sind alle Unterschiede nur Illusionen?«
»Alle.«
»Es gibt nur Gleichheit, Verschmelzung, Einssein?«
»Immerdar.«
Pendrake schluckte schwer. »Doch was ist dann die Vielheit, die wir wahrnehmen?«
»Illusorische schwache und starke Energiesignale.«
»Wem signalisieren sie?«
»Sich gegenseitig.«
Einen Moment lang fühlte Pendrake Leere in sich, doch er war noch immer nicht befriedigt. Trotzdem klang sein Ton bitter, als er fragte: »Wenn alles dies stimmt, warum habt ihr diese Form, die ihr jetzt habt, angenommen und
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