Die Bestimmung
weiter.
Dass der irische Wolfshund weder zu hören noch zu sehen war, machte ihr langsam Sorgen. Sie wusste, je weiter sie sich von ihrem Ausgangspunkt entfernte, dem zugemauerten Zimmer, desto weiter würde auch der Rückweg sein. Sie schüttelte nochmals die Laterne. Das Schwappen darin war nur noch ein kaum hörbares Säuseln. Nun hieß es: Zurück und mit Licht ankommen oder weitergehen und alles riskieren. Hin-und hergerissen schaute Nilah sich immer wieder um, als sie ein fernes grollendes Donnern vernahm. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach weitergehen. Morrins Worte kamen ihr in den Sinn. War sie wirklich schon einmal in Irland gewesen? Hier? War Edda schon einmal hier in diesem Tunnel gewesen? Nach ein paar Minuten öffnete sich der Tunnel in ein weites Rund. Das rhythmische Donnern wurde zusehends intensiver. Nilah hatte den Verdacht, nicht mehr allzu weit vom Meer entfernt zu sein. Vermutlich war es die Brandung, die sie da hörte. Sie betrat eine kuppelförmige Höhle, und diese war nicht von Menschenhand gebaut worden wie der Rest, sondern natürlichen Ursprungs. Raue spitze Felswände umgaben sie nun. Nilah wusste, sie hatte keine Zeit mehr. Hastig blickte sie sich um, ob es auch hier etwas gab, dass sie finden sollte. Aber sie sah nichts Auffälliges. Nur Fels.
Wie ein Kreisel drehte sie sich, spähte im schwächelnden Licht, leise vor sich hinfluchend. Als sie zum x-ten Mal eine Runde beendet hatte, beschloss sie, dass es besser war, den Rückzug anzutreten. Sie konnte ja laufen, jetzt, da sie nicht mehr auf jeden Schritt achten musste und ... was war das? Für einen kurzen Augenblick hielt sie inne und schwenkte zurück. Ihre Augen nahmen eindeutig etwas wahr, aber ihr Kopf setzte es nicht zusammen. Sie trat näher an die Felswand. Und da, als sie schon fast ihre Nasenspitze in den Fels bohrte, erkannte sie es. Ein Gesicht!
Es war so kunstvoll in die Felswand geritzt worden, dass es mit dessen Struktur fast vollkommen verschmolz. Sie erkannte die einfache Genialität dahinter. Hätte ihre Laterne kein stetes Licht ausgesandt, sondern statt dessen eines, das hin und her flackerte wie das einer Kerze oder einer Fackel, wäre es so gut wie unmöglich gewesen, aus den hundertfachen wabernden Schatten, welche die Felswände zurückwarfen, das Gesicht zu erkennen. Nilah atmete schneller vor Aufregung.
Die Augen waren nur aus jeweils zwei gebogenen Linien geformt – keine Pupillen, die Nase bildete ein natürlicher länglicher Vorsprung im Fels und der Mund war ein kaum faustgroßes Loch, das wie ein lautlos gesprochenes «O» aussah. Archaisch wirkte das Gesicht. Alt und bedrohlich. Allein dadurch, dass es dem Fels angepasst war. Wie hypnotisiert stand Nilah davor. Danach machte sie noch ein Gesicht gleich daneben aus und ein weiteres darüber. Als sie sich umschaute, starrte die ganze Höhle sie nun an, aus hunderten von Felszeichnungen, bestehend aus blicklosen Augen und stummen Mündern. Jetzt kam die Angst zurück und sie brachte noch jemanden mit – Panik.
Wie ein unregelmäßiger Pulschlag, dem ihren nicht unähnlich, begann die Laterne plötzlich mal heller, dann wieder schwächer zu brennen, als sauge es die letzten Tropfen des Öls auf. Nilah leuchtete hastig in den Mund des Gesichts, das ein ganzes Stück in die Wand ragte. Am Ende war eine Mulde, in der sie aber nichts erkennen konnte. Sie hastete zum Nächsten, schaute und lief immer weiter und weiter, immer schneller, um irgendetwas zu finden, von dem sie fest glaubte, dass es da sein müsste! Sie fuhr mit den Händen über die Gesichter, zog die Linien nach, aus denen sie geschaffen worden waren. Sie bettelte und fluchte für ein Zeichen, als sie sich umwand und gegen eine Statue prallte, die wie aus dem Nichts plötzlich in der Mitte unter der Kuppel stand.
Nilah wich einen Schritt zurück. Ein großer schlanker Fels stand da, über und über mit feinen Linien und Kerben versehen. Grob nur hatte man auch ihm menschliche Züge verliehen, als wäre es in großer Eile geschehen, als hätte man nicht die nötige Zeit gehabt, auch diese so fantastisch klar zu meißeln wie die Linien darauf. Der Kopf war wie ein Herz behauen, die Augen und Nase waren nur angedeutet und die Arme über der Brust kreuzförmig verschränkt, was den Eindruck vermittelte, die Figur umarme sich selbst. Und dort, wo der Nabel hätte sein sollen, wieder ein Loch. Nilah ging in die Knie, leuchtete mit dem letzten Rest Licht hinein und erspähte, dass kaum
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