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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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endlich konnte sie erkennen wie spät es war: 2:12. Es war noch mitten in der Nacht. Das hieß, dass sie nicht länger als eineinhalb Stunden in diesem Irrsinn gefangen gewesen war. Es hieß aber auch, dass es noch Stunden dauern würde, bis das erste Tageslicht sich blicken ließ. Dass von dem Loch, aus dem sie eben noch triefend herausgeklettert war, keine Spur mehr zu finden war, überraschte sie nicht wirklich. Sie nahm diese Tatsache mit einem gewissen Gleichmut hin. Ihr wurde kalt. Sie spürte erst jetzt, wie sehr ihre durchweichte Kleidung an ihr klebte und sie zum Zittern brachte. Sie musste den Weg nach Hause finden.
    Das hohle Klopfen eines Spechts hallte durch den Wald, irgendwo raschelte es. Nilah stand da und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Jede schien genauso ausweglos aus wie die andere, als sie die dunklen Umrisse der Figur zwischen zwei Moosmulden erblickte. Langsam hob sie die kleine Statue auf und betrachtete sie im Mondlicht wie einen Schuldigen. Das Ding war etwa so groß und breit wie ein älteres Handy, ganz aus glatt poliertem Stein gemacht. Zart wie ein Flusskiesel fühlte sich die Oberfläche an. Die Figur stellte einen nackten, schlafenden Mann dar, der in einem Boot aus Stein lag. Die liegende Figur hatte breite Schultern und eindeutig eine Erhebung, dort wo das Geschlecht sein sollte. Das Gesicht war schmal und von erhabenem Ausdruck. Die Arme neben den Hüften umklammerten etwas, das Nilah aber nicht erkennen konnte. Nilah fragte sich, ob es die Darstellung eines Kriegers oder eines keltischen Gottes sein mochte und strich sanft darüber, als der Bauch der Figur für einen Moment aufleuchtete. Wie aus dem Nichts erschienen darauf Linien, wie gerade eben erst eingeritzt. Blass erst, als müssten sie aus dem Inneren des Steins herausfinden, dann heller, bis sie schließlich weiß wurden. In der Mitte, genau über dem Nabel, entstand eine kleine gezackte Pfeilspitze, um sie herum ein Kreis. Aus ihm flossen verschlungene Ornamente wie Blüten, verschwanden unter der steinernen Haut, tauchten am Hals und im Gesicht wieder auf, wo sie in eines der Augen mündeten. Der Kreislauf begann dann von vorn. Plötzlich fing die Pfeilspitze auf der Figur an zu zittern. Sie vibrierte, so als müsse sie sich von etwas losreißen, dann schwang sie zur Seite, zitterte wieder und drehte sich wild im Kreis herum.
    Ein Kompass , schoss es durch Nilahs Gedanken und genau in dem Moment blieb die Spitze stehen, zeigte nach links und rührte sich nicht mehr. Nilah klopfte ganz leicht gegen die Hüfte der Statue um festzustellen, ob die Spitze sich auch ganz sicher war. Sie schaute in die angezeigte Richtung, seufzte ergeben und ging los. «Hoffentlich bringst Du mich nach Hause», murmelte sie und stieg über einen Baumstumpf mitten in den dunklen Wald.
    Immer wieder änderte die Pfeilspitze ihre Richtung. Nilah hatte den Verdacht, entweder im Kreis zu gehen oder aber im Nirgendwo zu enden - jedenfalls nicht vor der Haustür von Oma Eddas Cottage.
    Der Wald war still, als sähe er dabei zu, wie sie halb blind durch sein Reich tappte, über kleine Bäche hüpfte und Felsen umging, die so plötzlich auftauchten, wie eben erst vom Himmel gefallen. Nilah fror immer mehr. Mittlerweile wog die Angst, sich ernsthaft zu erkälten, mehr als die Lautlosigkeit der Landschaft. Aber urplötzlich, als hätte man den Wald einfach wie mit einer Schere von der Landkarte geschnitten, stand sie am Rand einer riesigen Ebene. Sie hörte das Meer wieder rauschen, wie es in gleichmäßigen Takten das Land berührte und schöpfte neue Hoffnung. Der seltsame Kompass zeigte in die Ebene, die von dunklen, buckligen Felsformationen übersät war, als wäre eine Herde Wale dort vor langer Zeit gestrandet. Doch dafür hatte sie keinen Blick. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause, unter die weiche Decke krabbeln und schlafen. Wie eine torkelnde Puppe stapfte sie die Ebene hinunter, den Blick fest auf die Figur gerichtet. Erst als die Pfeilspitze sich abermals zu drehen begann, hielt sie kurz inne, um sich umzusehen. Etwa fünfzig Meter entfernt war ein kleiner, aber imposanter Steinkreis zu sehen, wie es sie überall hier auf der Insel gab. Was sie nun aber wunderte war, dass die Spitze in Richtung Meer zeigte, und da war Eddas Haus nun auf keinen Fall. Wieder drehte sich der Pfeil, langsam und zäh und schien sich auf keine bestimmte Richtung mehr festlegen zu können. Fast war es, als würde er auf etwas deuten, das um sie

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