Die Bestimmung
da, aber Angst? Mehr als das fühlte sie eine fast kribbelnde Neugier. Als würde man sich Nachts aus dem Haus schleichen, um etwas Verbotenes oder Verrücktes zu tun. Nur eines machte ihr Sorgen: Bran blieb verschwunden. Sie hörte ihn auch nicht. Kein aufmunterndes Bellen, das einem sagte: Alles in Ordnung hier unten! Komm ruhig herunter! Aber herumbrüllen und den Hund rufen wollte sie auch nicht. Wer wusste schon, was dann passierte.
Langsam stieg sie die Stufen hinab, bemerkte, dass auch hier alles mit den gleichen großen Steinquadern gemauert war. Nilah fragte sich, wer und vor allen Dingen wann all dies gebaut worden war. Vielleicht war Edda auch so etwas wie eine irische Freiheitskämpferin gewesen und dies ein unterirdisches Waffenversteck. Neben ihr, in einer Nische, entdeckte Nilah eine alte verrostete Blendlaterne. Auf Antikflohmärkten hatte sie ähnliche schon einmal gesehen. Hinter dem Docht war eine blank polierte Metallplatte angebracht, die das Licht der Flamme verstärkt zurückwarf, ein unhandlicher Vorläufer der Taschenlampe sozusagen. Sie schüttelte die Laterne und hörte ein Schwappen. Öl war also noch 'drin. Dann nahm sie die Kerze und entzündete damit den Docht. Sofort wurde es wesentlich heller. Sie stellte den Kerzenhalter auf eine der Stufen - er würde wie ein kleiner Leuchtturm den Rückweg markieren. Die Laterne wie einen Schild vor sich haltend, ging sie den schmalen Treppenschacht hinunter.
Erst jetzt bemerkte Nilah die vollkommene Stille. Wie viele Stufen sie schon hinter sich hatte, konnte sie nur schätzen, aber so langsam taten ihr die Waden weh. Sie drehte sich um, leuchtete wieder hinauf und sah, wie sich der Lichtstrahl irgendwo in der Düsternis verlor. Selbst den Schein der zurückgelassenen Kerzen nahm sie nur noch mit zusammengekniffenen Augen wahr. Wie tief sie wohl mittlerweile war? Plötzlich glitt ihr rechter Socken viel zu schnell über die rutschige Kante, sie knallte schmerzhaft auf den Hintern und rutschte die nächsten steinernen Stufen unkontrolliert weiter. Die Blendlaterne fiel ihr aus der Hand, rollte scheppernd und mit dem Strahl um sich wirbelnd in die Tiefe. Als Nilah endlich wieder Halt fand, kam auch die Blendlaterne ein gutes Stück weiter unten endlich zum Liegen, während sie mit ihrem fahler werdenden Licht in einer letzten Kreisbewegung etwas anleuchtete, das Nilah wie Eiswasser durch die Adern fegte.
Lebendige Worte
Als Tok erwachte, konnte er sich nicht bewegen. Er versuchte sich zu erinnern, was passiert war, aber alles in seinem Kopf war wie mit klammem Stroh gefüllt. Irgendwie hatte er das Gefühl zu schwanken, seine Arme taten ihm weh und immer deutlicher hörte er ein Rauschen, das wie ferne Schritte immer näher kam. Er öffnete die Augen und sah unter sich das Meer brodeln und schäumen. Wie weiße Klingen hoben sich die Gischtkronen tief in der Dunkelheit ab. Wieder versuchte er sich zu bewegen, doch nicht ein Muskel wollte sich rühren. Jetzt spürte er auch, wie seine Mundwinkel schmerzten. Panik überkam ihn und er wollte sich losreißen, die Angst herausschreien, doch ein eklig schmeckender Knoten drückte seine Zunge hart an den Gaumen. Er blickte nach vorn. Er war gute drei Meter von der Klostermauer entfernt. Ein Seil zog sich zu ihm herüber und endete, wie er jetzt sehen konnte, an einem Baumstumpf. Man hatte ihn wie Schlachtvieh darauf gebunden. Arme und Beine nach hinten gebogen, so festgezurrt, dass er nichts weiter tun konnte, als sich seinem elenden Schicksal zu ergeben.
Er wimmerte. Tränen rannen an seinem Gesicht hinunter, bis sie in die Tiefe fielen und sich mit dem Meer vereinten.
Wieder sah Tok auf und da stand Er. Das lange glühende Haar wehte im Wind. Es schien, als griffen tausende blutiger Finger um sich. Stumm und reglos starrte der Einzige ihn an, und Tok blickte zum ersten Mal seit über zwei Jahrtausenden wieder in das Gesicht seines Herrn. Er dachte, seine Seele müsse dabei vergehen, so abstoßend grausam war es. Eine schreckliche Vorahnung machte sich in ihm breit. In Panik versuchte er sich irgendwie zu retten, doch alles, was er erreichte war, dass der Stamm, an dem er baumelte, gefährlich zu taumeln begann und das Seil, an dem er befestigt war, laut knarrte. Für einen kurzen Moment erwog er sogar, den Sturz in die Tiefe vorzuziehen. Lieber halb zerschmettert ertrinken, als ... er riss die Augen auf.
Dann geschah es.
Er sah, wie die Lippen seines Herrn zu beben begannen. Dann
Weitere Kostenlose Bücher