Die Bestimmung
Augen der gemeißelten Gesichter funkelten. Hoffnung keimte in ihr auf. Neben ihr trieb ihre Baseballkappe. Sie fischte sie heraus, wrang sie kurz aus und setzte sie auf.
Dann, wie ein gewaltiger Atemzug, hob sich das Wasser bis über ihre Hüften. Sie drehte sich um und sah mit schreckensweiten Augen, dass der Tunnelausgang verschwunden war. Die Kammer war verschlossen! Welch unheimliche Magie war hier nur am Werk? Aber sie ließ sich jetzt nicht unterkriegen. Denn Nilah war das, was der Volksmund eine Wasserratte nannte. Sie beherrschte jede Schwimmart, konnte ohne mit der Wimper zu zucken einen Ring aus einer Sprungkuhle holen und, wenn es sein musste, über zweieinhalb Minuten die Luft anhalten. Die Flut würde sie nach oben in die Freiheit drücken, sie musste nur ein wenig paddeln. Sich über Wasser halten.
Immer mehr Wasser strömte ein. Schon bald schwamm sie mit leichten und konstanten Fußbewegungen der Öffnung entgegen. Jetzt, wo sie ihr näher kam, schien diese aber immer kleiner zu werden. Nilah versuchte abzuschätzen, ob sie sich dort hindurchwinden könnte. Dann endlich konnte sie sogar die Luft riechen. Die frische, freie irische Luft. Ihr Herz jubelte. Sie sah noch einmal nach unten durch das schimmernde Wasser, das grün und blau die Höhle ausfüllte. Dort sah sie es liegen, unten am Grund. Die Figur. Die Figur, die in dem Nabel der Statue gesteckt hatte. Sie hatte sie fortgeworfen. Nun lag sie dort unten, und Nilah wusste, dass alle Angst, alles, was sie hier durchgemacht hatte, umsonst gewesen wäre, wenn sie diese seltsame Figur zurücklassen würde.
Sie schaute nach oben, schätzte die Zeit, die ihr noch blieb, holte ein paar Mal tief Luft. Durch die Nase ein, durch den Mund wieder aus, Sauerstoff tankend. Ohne zu zögern tauchte sie unter und strebte dem Boden zu. Sie hörte ihr Herz in ihrem Körper wummern, spürte die Kälte, die ihr Blut zäh machte. Den Druck auf den Ohren, den sie ausglich, indem sie sich die Nase zuhielt und einen Gegendruck erzeugte. Für einen schrecklichen kurzen Augenblick dachte sie: Was, wenn sich jetzt oben die Felsen schließen? Dann wirst du hier allein in einer stockfinsteren Höhle elend ertrinken. Die Statue versank nun plötzlich im Boden als hätte sie ihre Aufgabe erfüllt.
Doch es gab kein Zurück. Die Figur holen und 'rauskommen oder für immer aufgeben.
Hastig ruderte Nilah mit Armen und Beinen. Mit dem letzten Mut griff sie nach der Figur, drehte sich herum und stieg so schnell wieder auf wie sie nur konnte. Und tatsächlich: Die Öffnung war kleiner geworden. Mit strampelnden Beinen, schon die letzte Luft aus den Lungen ablassend, tauchte sie nach oben. Der Mond schimmerte über ihr. Mit gestreckten Armen voraus und einem lautem Schrei stieß sie an die Oberfläche, warf die Figur über den Rand, schlängelte sich, mit eingezogenen Schultern, durch die kantige, schroffe Öffnung, die sich zusehends verschloss. Sie fuchtelte mit den Händen, bekam etwas zu fassen und zog heftig daran. Dann hievte sie sich langsam heraus, kroch ein paar Schritte auf allen vieren und rollte sich völlig erschöpft aber unendlich erleichtert auf die Seite – in wunderbar weiches Moos.
Gewalt
Lachend drehte Nilah sich auf den Rücken. Es war ein leises, ungläubiges Lachen. Ein Tribut an die Anspannung, die ihr Körper hatte durchmachen müssen. Doch als sie die Augen aufschlug, blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Über ihr ragten die knorrigen Umrisse von unzähligen Bäumen in den Himmel und darin stand der Mond wie in einem hölzernen Spinnennetz. Sie lag am Fuße eines dicken, zerfurchten Stammes, dessen Äste bis fast auf den Boden reichten. Überall um sie herum nichts als angsteinflößende Schatten, die weitere Schatten warfen, auf einen mit dunklem Moos überwucherten Boden.
Langsam beschlich sie das Gefühl, dass sie in eine andere Welt geglitten war, denn ihre Welt bestand aus anderen Dingen. Aus Toast mit Marmelade zum Frühstück. Einem Schulweg. Nervigen Mitschülern. Aus Straßen, Häusern, Geschäften und ganz wenig Landschaft und wenn, dann nur als Park, verdammt! Sie wusste nicht einmal, wo sie hier war, wie sie wieder zu Eddas Cottage finden sollte, zurück zu ihrem Bett, zu ihrem Vater, ihrem alten, normalen Leben. Nur einer hätte ihr jetzt helfen können und das war Bran. Jetzt vermisste sie den großen grauen Hund geradezu körperlich. Sie hoffte inständig, dass er nicht in dem Tunnel ertrunken war.
Sie sah auf die Uhr und
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