Die Bestimmung
war eine Kopie von Oma Eddas Brief. In dem Papier zu erkennen waren nun noch, unter den vier Zeilen in deutsch, ein einziges Durcheinander von kurzen Linien.
« Ogham-Schrift ist der Runenschrift ähnlich», sagte Atticus hinter dem Blatt. «Sie besteht aus einer langen Geraden, auf der man sowohl oben und unten kurze Striche anbringt. Die verschieden dichten Abstände und Längen ergeben von oben nach unten gelesen ein Wort. Es ist eine Art Zahlencode. Eine Strichgruppe steht für einen bestimmten Buchstaben.»
Nilah kapierte langsam. Es war, als würde man die Feder eines Pfeils zeichnen, nur mit geraden und schrägen Linien und in unterschiedlichen Abständen. Wie ein Baum mit Ästen!
Nilah war wie erschlagen. Sie schüttelte den Kopf und sah Atticus an, der da in den Bildschirm grinste. «Und?»
«Ich werde es übersetzen, versprochen, junge Lady!»
Nilah nahm die Zeitschrift und sagte Atticus, dass sie ihm etwas vorlesen wolle, das vielleicht wichtig sei. Unsinnigerweise hielt der Professor sein Ohr an die Kamera. Nilah seufzte und versuchte, die gälischen Worte so gut es ging auszusprechen, ohne dass es sich anhörte, als habe sie eine Socke im Mund. Als sie fertig war, sah sie wieder auf und blickte in ein in Stirnfalten erstarrtes Gesicht.
«Wer hat das gesagt?», fragte er fast misstrauisch.
«Liran», flüsterte sie.
Atticus schaute in seinem Wohnzimmer umher, als lausche er noch immer den verhallenden Worten oder als könne er nicht ausmachen, woher sie kamen.
«Atticus?» Nilah wurde mulmig zumute.
Plötzlich wurde er ernst. Sein Gesicht war wieder klar, aber alle Begeisterung von eben war wie fortgewischt. Nilah saß für ein paar Herzschläge da, als habe man sie in einen Bottich voller Watte geworfen. Alles schien gedämpft. Sie schaute auf den Bildschirm, sah aber nicht wirklich etwas. Sie wusste nicht, was sie jetzt denken sollte. Da war nur noch Chaos. Hilflos betrachtete sie die drei Fotos. Doch alle drei schienen aus einer ganz anderen Wirklichkeit zu stammen. Nicht von hier.
«Was bedeutet denn das Ganze?» Ihre Stimme schleppte sich geradezu nach Irland.
Atticus räusperte sich und sah direkt in die Webcam. Er rieb sich müde Augen und Nasenrücken. Dann zuckte er verzweifelt mit den Schultern. «Ist das nicht verrückt, junge Lady? Der Mann spricht deutsch, englisch – Sprachen, die zu seiner Zeit gar nicht existiert haben! Aber was immer er da gemurmelt hat, er weiß etwas, das von solcher Wichtigkeit ist, etwas, das so dermaßen schützenswert ist, dass ihn jemand deshalb über zwei ganze Jahrtausende lang irgendwie überleben ließ, nur um es zu wahren.»
Nilah verstand gar nichts mehr. Und in ihrem Kopf begann ein wilder Streit darüber, ob sie sich verkriechen oder endlich den Kopf heben sollte. Sie versuchte die zweite Möglichkeit.
«Danke», sagte sie kurz, kappte die Leitung mit einem entschlossenen Tastendruck und klappte den Laptop zu. Es dauerte, bis sie aufstand, aber als sie es dann tat, war sie jemand, der mehr wissen wollte.
Waffenkunde
Liran spürte, dass Nilah etwas wusste. Dafür genügte ein Blick. Die Frage war, wie er damit umgehen würde. Er ging hinter diesem Mann, Peter, die Treppe hinunter, der ein Heiler war, aber ihn nicht wirklich heilen konnte. Aber wenigstens hatte er etwas anderes: Humor. Den hatte sie nicht in ihrem Blick. Ihre Augen sagten: Sag mir endlich die Wahrheit!
Er hatte die Sachen an, die man ihm gegeben hatte. Seine waren zerschnitten worden und sowieso nicht dieser Zeit angemessen. Also trug er eine schwarze Hose und etwas, das man Pullover nannte, ebenfalls schwarz. Zumindest die Farbe sagte ihm zu.
Der Heiler wurde verabschiedet wie ein alter Freund. Er zwinkerte Liran nochmals kurz zu, als er durch die Tür verschwand. Liran nickte zurück. Er hatte ein Versprechen gegeben und er würde es halten. Kräuterwissen – sehr altes Wissen.
Warum sahen manche Menschen schön aus, wenn sie wütend waren? Liran deutete Nilah ein ‚ Nicht jetzt ‘ an und hoffte, dass sie es verstehen würde. Viel wichtiger war für ihn zu erfahren, wo genau sie waren, wie dieses Haus aussah, wie es verteidigt werden konnte und wie er etwas dafür tun konnte, den einzigen Menschen vor Schaden zu bewahren, den er auf dieser Welt noch hatte.
Als er ihren Vater sah, wusste er, dass dies nicht einfach werden würde. In dessen Augen glomm - und das konnte Liran gut verstehen - unterschwelliges Misstrauen und auch Angst. Wie oft in seinem Leben musste
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