Die Bestimmung
Glück, dass er die Adresse so schön auswendig wisse.
Auf der Fahrt musste Tok sich zusammenreißen. Er hatte mit seinen ständigen Verwandlungen ein wenig übertrieben. Nun kribbelten erst die Füße, dann fing sein Mund an zu zucken und nur mit allergrößter Mühe schaffte er es, seine Gestalt zu behalten, ohne dass seine Ohren ausklappten wie kleine schiefe Tragflächen. Aber offensichtlich hielt man sein zusammengekniffenes Gesicht für einen Ausdruck großer Verzweiflung. Die Frau sprach ihn an, und dabei müffelte sie nach irgendeiner Blüte, und zwar so sehr, als hätte sie eine ganze Wiese gefuttert oder sich darin gewälzt. Aber als sie Toks Gesicht sah, kamen ihr nur wieder die Tränen. Sie hielt den Fahrer an, er möge doch schneller machen, der kleine Kerl würde ja gleich Rotz und Wasser heulen. Der Mann starrte entweder aus dem Fenster oder behielt Tok wachsam im Auge.
Als man ihn absetzte, ein paar Türen zu früh, das hatte er so geplant, bedankte er sich schniefend. Uschi drückte ihn noch mal an ihren Blumenwiesenbusen und winkte zum Abschied. Während er eine dunkle, aber spärlich beleuchtete Auffahrt hochtappte, ploppten auch schon seine Füße heraus. Kurz, nur ganz kurz, fühlte Tok in seinem Gaunernacken, dass sie nicht hinsahen, und genau in dem Augenblick verschwand er im Gebüsch, als hätte es ihn nie gegeben. Einen Moment wartete er, dann fuhr das Taxi an und verschwand endlich in der nächtlichen Straße.
Tok brauchte dringend seine eigene Gestalt wieder. Er krabbelte unter einen Rhododendronbusch, rollte sich zusammen und genoss den moorig nassen Boden unter sich. Nur kurz ausruhen, dann konnte er mit seiner Observierung anfangen. Kalt war es aber trotzdem.
Alte Zeichen
Nilah schaute noch immer die Treppe hinauf, um nichts zu verpassen, als ihr Vater ins Haus kam. Die alte Arbeitstasche geschultert, zwei Plastikbeutel vom Türken um die Ecke in der Hand und den Autoschlüssel im Mund, ging er in die Küche und klatschte alles auf den Tisch.
«Ist Doktor Dolittle da?», fragte er, als ob er den Porsche draußen gar nicht bemerkt hätte.
Nilah gab ihren Beobachtungsposten auf und folgte ihm in die Küche, um zu sehen, was er eingekauft hatte.
«Vorhin hat Peter zumindest einmal gelacht», bemerkte sie, während sie in den Obsttüten wühlte.
«Ist doch ein gutes Zeichen, wenn die beiden sich verstehen. Peter hatte schon immer eine sehr gute Menschenkenntnis. Ich vertraue ihm.»
Nilah wusste nicht, ob das ein kleiner Seitenhieb dafür war, dass sie erst viel zu spät ihrem Vater alles gebeichtet hatte, oder nicht. Keiner von ihnen beiden war je sonderlich nachtragend gewesen. Dieses Spiel beherrschten sie einfach nicht.
«Ach ja, und gestern, ziemlich spät, hat dieser Atticus Finch angerufen. Du sollst Dich bei ihm melden.»
«Atticus? Warum hast Du mir nicht Bescheid gesagt?»
«Du hast da oben neben Liran im Sessel geschlafen. Ich wollte Dich nicht wecken.»
Einen Moment lang wusste Nilah nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie, suchte die Zeitschrift, auf der sie Lirans Fieberworte notiert hatte und ging ins Wohnzimmer zum Telefon. Bevor sie wählte, überschlug sie noch einmal die Notizen, versuchte, sich ihren Klang wieder in Erinnerung zu bringen. Dann rief sie an. Noch bevor das erste Freizeichen verklungen war, hörte sie auch schon die Stimme von Atticus. Er musste die Hand am Hörer gehabt haben, so schnell ging das. Seine raue Stimme verriet, dass er aufgewühlt war. «McIntosh!», sagte er nur und legte sofort wieder auf, als handele es sich um das Lösungswort bei einem Radiowettbewerb. Nilah starrte in die Muschel und zog die Brauen hoch. Ähhh, was war denn nun los? Sie legte auf und sah aus dem Fenster in den Garten. Unten am Fleet ging ein Pärchen spazieren. Arm in Arm. Der Groschen fiel langsam, sehr langsam, und plötzlich wusste Nilah, was Atticus gemeint hatte. Er hatte ihr eine Mail geschickt. Er wollte nicht am Telefon darüber reden. Aber wieso nicht?
Da ihr Computer oben im Zimmer gerade von einer angehenden Männerfreundschaft belegt war, ging sie in das angrenzende Arbeitszimmer ihres Vaters und setzte sich dort an seinen Rechner. Hier im Zimmer roch es immer so intensiv nach ihm, weil er oft genug hier in Klamotten schlief. All seine Lieblingssachen lagen herum, wie nach einem Sturm. Dutzende Fotos und Bilder hingen hier. So viele, dass man kaum die Tapete darunter erkennen konnte. Auf dem alten Schreibtisch, der ein wenig wie der
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