Die Bestimmung
eines unorganisierten Schriftstellers aussah, übersät mit kleinen und großen Post-its , in allen Formen und Farben, stand der Rechner. Mit Ordnung hatte ihr Vater nie viel am Hut gehabt. Er liebte sein Chaos wie eine alte knitterige Jacke. Neben dem Computer und immer in Sichtweite standen drei Portraits. Auf allen dreien war Nilah. Auf dem ersten schrie sie wie am Spieß, während ihr Vater sie mit einer alten Super 8 Kamera filmte und dabei mit der einen Hand etwas wie: «Hier ist das Vögelchen» vollführte. Nilah wusste, das Hauptmotiv war eigentlich die Kamera, nicht sie. Es war seine erste «Alte» gewesen. Das Bild hatte Peter gemacht, und nur eine halbe Stunde vorher war Nilah geimpft worden. Das zweite Bild zeigte sie und ihren Vater eng umschlungen, Nilah war fünf und lag auf seinem Bauch, halb heruntergerutscht in die Sofaritze. Beide schliefen den Schlaf der Gerechten. Sie hatte den Zipfel seines karierten Hemdkragens im Mund und schien wie selig, ihr Vater hatte den Kopf gegen den ihren gelehnt, als wäre er ein Kissen. Das Bild hatte Daphne gemacht, und noch heute konnte sie die Szene nur unter Tränen schildern. Das dritte Bild war eines, das nur Nilah zeigte. Sie war im Garten auf der Liege eingedöst, hatte einen warmen Tag genossen und er hatte sie einfach dabei fotografiert. Das dritte Foto war immer ein aktuelles. Er tauschte es immer wieder aus. Jetzt, während sie sich darauf selbst ansah, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihren Vater liebte. Das Herz wurde ihr schwer, und sie musste ein paar Mal tief durchatmen. Was ... was würde werden, sollte ihm einmal etwas passieren? Allein der Gedanke brachte eine solch heftige Verzweiflung in ihr zum Brodeln, dass sie den Gedanken mit viel Willenskraft aus ihrem Kopf stoßen musste. Langsam riss sie sich los und schaltete den Computer an.
Nilah hatte eine Mail und zwar eine ungewöhnliche. Sie hatte einen Link von Atticus bekommen und eine Art Passwort, das TokillaMockingbird hieß, was immer das bedeuten sollte. Aber eines wurde ihr klar. Er wollte ihr über Webcam etwas mitteilen, besser gesagt zeigen. Sie startete das Chatprogramm. Die Webcam leuchtete auf. Nur Sekunden später war Atticus' Bild da. Sie sah ihn an und musste unwillkürlich lächeln. Atticus schien auf sie gewartet zu haben. Im Hintergrund hörte sie die Übertragung einer Sportveranstaltung aus einem Radio. Atticus selbst wirkte so zerzaust, als hätte er gerade im Lotto gewonnen und schon die Hälfte davon durchgebracht.
«Nilah? Nilah!», rief er und ein wenig zeitversetzt dazu öffneten sich seine Lippen. Hatte er da einen Morgenmantel an?
«Ich habe mir die Haare gerauft. Ich habe das Meer angebrüllt, ich habe rein nach der Lehre George Bernard Shaws die irische Allheilmethode angewendet, was nichts anderes bedeutet als: Ich habe mir einen auf die Lampe gegossen. Ich habe alles ausprobiert und versucht. Nichts!» Jetzt fuchtelte er mit den Armen und kam näher an die Kamera, so dass Nilah etwas zurückwich. «Aber als ich heute morgen im Garten stand, um meinen Kopf auszulüften, da schien die Sonne, und sie schien direkt auf einen Tannenzweig und dieser Zweig, dieser fantastische kleine Zweig, war endlich die Lösung!» Er machte eine bedeutungsvolle Pause. «Es ist Ogham-Schrift !», sagte Atticus plötzlich völlig klar, wie ein Schauspieler den Schlusssatz.
«Es ist was?»
« Ogham! Die Schrift der Kelten, einiger jedenfalls. Ich habe etwas gebraucht, um dieses Wirrwarr an völlig sinnlos gesetzten Strichen auf dem Brief zu erkennen. Denn sie sind nicht nur von links nach rechts geschrieben, sondern auch von oben nach unten!»
«Was ... ich verstehe gar nichts.»
«Deine Oma hat Dir eine Nachricht in einer alten keltischen Schrift dagelassen. Es ist eine sehr alte irische Version des griechischen Alphabets. Ich habe mich nie wirklich damit auseinandergesetzt, das habe ich immer den Linguisten überlassen. Aber soweit ich das erkennen kann, hat Edda diesen Brief ... sagen wir mal ... verschlüsselt.»
Damit konnte Nilah nun etwas anfangen. Das klang schon eher nach geheimen Botschaften, nach wirklich wichtigen Nachrichten. Trotzdem wusste sie nicht, was sie sich darunter vorstellen sollte, und das sagte sie auch. Atticus huschte aus dem Bild. Sie sah ihn irgendetwas suchen. Erst jetzt fiel Nilah auf, wie durcheinander die Wohnung war. Als wäre sie durchsucht worden. Der Professor kam mit einem Blatt Papier zurück an den Bildschirm und hielt es in die Kamera. Das
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