Die Betäubung: Roman (German Edition)
dem Moment, da sie noch da war.«
Die Mädchen haben Cocktails bestellt und flachsen mit dem Barkeeper, der sie ihnen bringt.
Peter seufzt. »Roos«, sagt er. »Mit Roos liegt natürlich etwas im Argen. Hanna war eine Art zweite Mutter für sie. Das müsste Suzan jetzt auffangen, und das geht nicht. Sie kann es nicht. Und Roos entzieht sich ihr, ist mitten in der Krise zu Hause ausgezogen. Das ist natürlich theatralisch, sie agiert. Suzan geht mit ihr um, als wäre sie erwachsen, aber momentan ist sie nichts anderes als ein unreifes Kind. Suzan kapiert das nicht, ich kann nicht mit ihr darüber reden.«
»Suzan hat ja selbst keine Mutter gehabt«, sagt Drik. »Sie weiß nicht, wie das ist, wie das geht. Sie kümmert sich, wie sie es von Tante Leida kennt, die uns aufgezogen hat. Und da sie Roos jetzt nicht mehr zum Kümmern hat, kümmert sie sich um mich. Vielleicht wäre es anders, wenn sie eine Analyse gemacht hätte. Vielleicht auch nicht. Bei all diesen frühen Traumata kann man doch wenig machen. Versuch das mal zu verstehen, wenn du im Alter von sechs Monaten von der Mutter im Stich gelassen wirst. Das geht gar nicht. Du kannst es höchstens als Geschichte in dich aufnehmen, die ein anderer in Worte gefasst hat. Und dir dann einbilden, dass es passiert ist, weil du nicht gut genug warst, was ja all die Adoptivkinder denken. Suzan versucht schon ihr ganzes Leben lang zu beweisen, dass sie doch zu etwas taugt, deshalb ist sie auch so kompetent in ihrer Arbeit. Sie braucht Beifall, man soll mit ihr zufrieden sein. Dann hat sie ein Daseinsrecht. Du kannst mit ihr natürlich nicht über so was reden, da fühlt sie sich nur unbehaglich. Nicht von ungefähr sind ihre Patienten bewusstlos.«
»Ich fand das so anziehend an ihr«, sagt Peter, »dass sie jemand ist, der für unsere Psychologisiererei ganz und gar unempfänglich ist, der keine Vorstellung davon hat, wie wir sind, wenn wir uns von unserer schlechtesten Seite zeigen – distanziert und abgehoben, weil wir Schiss haben, aufs Glatteis zu geraten. Es war erfrischend. Sie akzeptiert die Dinge, wie sie kommen, und teilt sich Probleme in kleine Portionen auf, die sie Stück für Stück in Angriff nimmt. So hat sie das bei Hanna gemacht. Das war großartig. Das half.«
Ich habe keine Lust, hier meine Schwester auseinanderzunehmen, denkt Drik. Worauf lasse ich mich ein, wo stehe ich? Aber Peter liegt etwas auf der Seele. Er ist dein Freund. Also mach dir nicht ins Hemd.
»Einmal, als Roos gerade das Apartment gefunden hatte«, sagt Peter, »bin ich kurz hingeradelt. Ich war zwar nicht damit einverstanden, dass sie so Knall auf Fall ausgezogen war, aber ich wollte doch mal schauen, wie sie jetzt untergekommen war. Ein Umzugswagen stand vor der Tür. Roos und Suzan liefen mit Kartons voller Geschirr und Lampen hin und her. Ein paar Jungs waren auch dabei, Freunde von Roos. Sie trugen die schwereren Sachen. Ich habe zugeschaut, ohne dass sie mich bemerkten. Suzan war so nett, so patent. Es wurde gelacht, beratschlagt, dirigiert – das sah alles fröhlich und ganz normal aus. Aber das war es natürlich nicht. Gut, Roos ist in dem Alter, da man zu Hause auszieht, aber so eine Entscheidung sollte sich von selbst ergeben und nicht von der Krise mit Hanna abhängen. Ich dachte: Das ist Abwehr, sie agiert, und sie tut sich selbst keinen Gefallen damit. Sie konkurriert mit Hanna um Suzans Aufmerksamkeit, und sie flüchtet in die Einsamkeit, obwohl sie eigentlich dazugehören möchte. Ich stand da mit meinem Fahrrad und sah, wie Suzan vorbehaltlos mitspielte in diesem neurotischen Theater. Das Kind will weg? Gut, dann sorgen wir dafür, dass das Kind optimal wegkommt. So etwa. Ich fand das gar nicht gut, aber ich fand auch mich selbst zum Kotzen, mit meinen stereotypen analytischen Kommentaren, die mir durch den Kopf gingen. Übrigens, wie läuft es eigentlich mit diesem jungen Schuurman, den ich an dich überwiesen habe?«
Komische Assoziation, findet Drik. Sieht er in dem Jungen einen neurotischen Schauspieler? Oder will er nur schnell von seinen Erziehungsproblemen ablenken? Drik überlegt, was er sagen soll. Der Junge arbeitet schließlich bei Peter, er muss ihn beurteilen. Ich sollte den Mund halten, denkt er. Andererseits würde ich gerne wissen, was Peter von ihm hält, wie er sich auf seiner Abteilung anstellt. Er? Warum nenne ich ihn nicht beim Namen?
»Es läuft. Ich kann noch nicht viel sagen. Ich habe ja noch andere, Lehrtherapien meine ich, von anderen
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