Die Betäubung: Roman (German Edition)
sind im Sturmschritt Richtung Stadtzentrum, zum Gebäude der psychoanalytischen Vereinigung unterwegs, wo sie dem zweiwöchentlichen wissenschaftlichen Vortrag beiwohnen wollen. Drik, der diese Treffen monatelang ausfallen ließ, hat sich jetzt von Peter dazu überreden lassen. Ich nehme den Faden wieder auf, denkt er, den Gang in das therapeutische Klubhaus, das Wiedersehen mit Kollegen. Der Form nach zumindest. Das Interesse ist gespielt, ihm liegt nicht das Geringste an alldem. Todmüde macht ihn dieser alte Wein in neuen Schläuchen. »Mentalisierung«, »Bindungsstil«, er hasst diese Wichtigtuerei, diese Idealisierung einer mehr als hundert Jahre alten Behandlungsform, diese Ignoranz im Hinblick auf eine wissenschaftliche Untermauerung. Wäre an sich alles nicht so schlimm, denkt er, wenn sie der Forschung gegenüber nicht auch noch herablassend wären, wenn wenigstens eine gewisse Neugierde vorhanden wäre, welche Erfolge mit weniger orthodoxen Behandlungsmethoden erzielt werden. Ich verstehe nicht, dass Peter jetzt wieder so vergnügt hingeht. Als er voriges Jahr diesen Vortrag über die Verwendbarkeit des »psychoanalytischen Gedankenguts«, wie sie es dort so gern nennen, in der heutigen Psychiatrieausbildung gehalten hat, wurde er regelrecht durch den Fleischwolf gedreht. Er verschleudere die analytische Terminologie, er werfe das »Gold« der Analyse zum Fenster hinaus und biete den Lernenden stattdessen ein billiges Replikat, hieß es. Peter hatte ein sinnvolles, praxisnahes Plädoyer für die Ausdünnung der Theorie gehalten, für Bemühungen darum, das analytische Denken mit der Entwicklungspsychologie und den neueren Ergebnissen der neuropsychologischen Forschung zu kombinieren. In der wirren Diskussion hatte Drik ihn unterstützt, aber nicht viel damit erreicht. Sie wurden beide als Verräter betrachtet.
Ich bin müde, denkt er, deshalb habe ich so säuerliche Gedanken. Wenn ich mehr Energie hätte, würde ich den Laden aufrütteln wollen, würde ich die am wenigsten bornierten Kollegen auffordern, mal über den Tellerrand zu blicken und sich anzuschauen, wie die Therapielandschaft heute aussieht. Aber ich bin müde. Ich habe schon wieder vergessen, worum es heute Abend eigentlich gehen soll. Leide ich schon an Alzheimer, oder bin ich einfach nur apathisch?
»Indikation«, sagt Peter. »Ob eine diagnostische Voruntersuchung für die Indikation der Psychoanalyse sein muss. Und wenn ja, wie. Man kann sich jetzt schon denken, wie die Diskussion laufen wird. Einfach alle auf die Couch, denn Freud hat sein segensreiches Werk ja auch ohne irgendeine vorherige Prüfung aufgenommen. Die strukturierte Befragung zu Lebensgeschichte und Triebhaushalt steht im Widerspruch zu den Grundwerten der Analyse. Das werden sie sagen, die Orthodoxen. Und dann folgt ein Gegenangriff von den Leuten, die im Institut arbeiten, denn die betreiben fundierte Indikationsforschung und wissen, dass ein Borderline nicht mehr auf die Couch gehört. Wenn das wieder auf eine Zerreißprobe hinausläuft, trete ich aus diesem Verein aus. Das überlege ich mir sowieso schon seit einer Weile, seit diesem Debakel mit der kombinierten Ausbildung. Was wir da für Zeit hineingesteckt haben! Alles für die Katz!«
Er schüttelt den Kopf und ballt die Fäuste. Vor ein paar Jahren haben sich Drik und Peter mit einigen Kollegen intensiv darum bemüht, die verschiedenen psychoanalytischen Ausbildungen im Land zusammenzuführen. Dahinter stand der Gedanke, dass Lernende und Lehrende bei aller Unterschiedlichkeit der Ausbildungen – die eine ist eher an der althergebrachten Analyse ausgerichtet, die andere an weniger verbreiteten Therapieformen – eine bestimmte Art des Denkens miteinander gemein haben dürften. Sie wollten den Fokus von den Unterschieden auf die Gemeinsamkeiten verlegen. Sie wollten mit Gleichgesinnten eine Front gegen die von Politik und Versicherern erzwungene Flut kurzer, verhaltensorientierter Verfahren und die Überbewertung der medikamentösen Behandlung bilden. Anfangs schien ihnen das zu gelingen. Sie bekamen viele, vor allem jüngere Kollegen auf ihre Seite. Doch am Ende wurde das schon ziemlich weit gereifte Vorhaben von denen, die das Sagen hatten, torpediert. Sie mussten kapitulieren, und alles blieb so, wie es war.
»Du kennst das doch«, sagt Drik.
Hundert Meter vom Gebäude entfernt bleiben sie stehen.
»Diese ganze analytische Bewegung zehrt von Differenzen. Das ist der Nährboden, so ist es immer gewesen.
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