Die Betäubung: Roman (German Edition)
einer Klinik.«
Vereycken sinniert weiter. »Und wenn ein Arzt mal in Therapie geht, wird er oft unzureichend behandelt. Der Therapeut ist ja eine Art Kollege und tut sich schwer damit, energisch einzugreifen. Also selbst dort lässt man uns zu viel Freiraum und hilft uns nicht ausreichend dabei, uns an die Regeln zu halten. So muss man das wohl sehen. Es ist keine Frage des Verdächtigens und Verpetzens, sondern der Anteilnahme und Hilfe. Ich weiß, das klingt ein bisschen gefühlsduselig, aber ich weiß nicht, wie ich es anders formulieren soll. Die Autoren geben wie gesagt bemerkenswerte Empfehlungen ab: Man sollte jemanden einstellen, der als Vertrauensperson fungiert, man sollte Hotlines zu einigen Psychiatern oder Psychotherapeuten außerhalb des eigenen Krankenhauses unterhalten. Hier kennen sich alle untereinander, das ist auch so eine Sache.«
Schaut er jetzt zu mir rüber, denkt Suzan, weiß er, was Peter macht? Damit habe ich nichts zu tun, ich kann doch bei meinem eigenen Mann oder Bruder wohl schwerlich Therapieplätze für meine Kollegen organisieren. Erwartet er Ratschläge von mir? Sie blickt starr auf den Tisch, auf das Mandel- und Schokoladengebäck.
»Denkt mal darüber nach«, sagt Vereycken. »Wir kommen darauf zurück. Jetzt wünsche ich allen einen schönen Abend, beziehungsweise einen guten Dienst. Nächste Woche dann Tjallings Thema.« Er erhebt sich. Sofort wird es rundum laut, man greift zu seiner Tasche, schaut aufs Handydisplay, zieht sich den Haarschutz vom Kopf. Rudolf Kronenburg, ein feiner Herr im Maßanzug, sieht zu, dass er wegkommt. Er kann nicht gut mit Vereycken und hat sich massiv gegen dessen Neugestaltung der Weiterbildung gesperrt. Suzan hat eigentlich erwartet, dass er gehen würde, als der Lehrstuhl neu besetzt wurde, doch es scheint, als gefalle ihm seine Dissidentenrolle ganz gut. Ohne sich von irgendwem zu verabschieden, marschiert er auf den Flur hinaus.
Suzan geht langsam aus dem Raum. Simone schließt sich ihr wortlos an. Auf dem Flur treffen sie Kees. Sie bleiben kurz beisammen stehen.
»Schon gut, dass er das angeschnitten hat«, sagt Simone. »Aber es ist schwer, zu dem Thema etwas Gescheites zu sagen.« Sie schaut über Kees’ Schulter zu Berend und Bibi, die in lebhafter Unterhaltung, die Köpfe zueinander hingebogen, Richtung Ausgang laufen.
Kees schüttelt nachdenklich den Kopf. »Er muss das schon machen, ja, aber ich habe so meine Zweifel. Wenn das zu einer Atmosphäre führt, in der wir uns alle misstrauisch beäugen, fährt man den Karren doch erst recht in den Dreck.«
»In den Dreck?« Suzan schrickt auf. Sie sieht plötzlich Roos vor sich, einen Karren mit ihren Siebensachen ziehend, der immer tiefer im Schlamm versinkt.
»Wir sind einfach nicht gut im Reden«, fährt Kees fort. »Wir sind Macher, Problemlöser. Es reicht schon, dass wir so intim mit den Patienten sind, sie liegen nackt auf unserem Tisch, und wir dringen durch alle Öffnungen in sie ein. Da möchte man auf anderen Gebieten lieber etwas mehr Abstand. Und ich bin auch permanent mit der Arbeit befasst. Ich kontrolliere Narkosegerät und Opiate selbst. Da bleibt mir doch gar keine Zeit, Simone zu fragen, ob sie zu Hause Probleme hat.«
Er zwickt Simone freundschaftlich in den Nacken. Suzan sieht, dass Simone plötzlich Tränen in den Augen hat. Was ist denn bloß los?, denkt sie. Durch die Besprechung denken wir jetzt alle an zu Hause, an die Welt außerhalb des Krankenhauses, in der wir nicht für jede Krise eine Lösung parat haben und Abhilfe schaffen können wie der rettende Klempner. Simone geht es nicht gut. Mir vielleicht auch nicht. Aber ich bin hier am richtigen Ort, hier weiß ich, woran ich bin. Das lasse ich mir nicht nehmen.
Sie legt den Arm um Simone. »Komm, zieh dich um. Ich begleite dich.«
Sie lassen Kees allein und verschwinden im Umkleideraum. Vereycken meint es gut, denkt Suzan, und was er zur Sprache bringt, ist gut. Warum habe ich dann das Gefühl, dass auf unserer Abteilung etwas kaputtgemacht worden ist? Ich muss heute Abend mit Peter reden.
Sie öffnet mit ihrer Ausweiskarte die Tür und lässt ihre Freundin vorangehen. Draußen vor den Fenstern des Umkleideraums ist der Himmel schwarz.
7
Das Pflaster vor dem Haus von Peter und Suzan ist noch nass, aber es regnet nicht mehr. Es ist windstill und kalt. Warmes Licht fällt aus den Fenstern auf die Straße. Man hantiert in der Küche, hat den Fernseher angemacht, leitet den Abend ein.
Drik und Peter
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