Die Betäubung: Roman (German Edition)
schon zurecht, denke ich.« Sie klopft auf ihre Brusttasche, um Winston zu signalisieren, dass er sie anrufen kann, sowie er das für nötig hält. Er winkt sie mit breitem Grinsen zur Tür hinaus.
Der Zwölfstundendienst ist die schönste Art, ihren Beruf zu praktizieren, findet Suzan. Einsatzgebiet ist das gesamte Krankenhaus, man wird von hier nach dort gerufen, muss überall schnell die Situation überblicken und dann einen Eingriff machen, den andere nicht beherrschen oder sich nicht zutrauen. Man erledigt die Aufgabe und zieht weiter zum nächsten Vorfall. Man kommt auf Abteilungen, die man kaum kennt, begegnet in diesen zwölf Stunden Dutzenden von Menschen, lässt die Patienten, denen man helfen musste, in den Händen anderer zurück. Wie es schließlich ausgeht, erfährt man manchmal gar nicht. Man muss weiter, seine Arbeit fortsetzen.
Aus diesem Grund hat sie sich für die Anästhesiologie entschieden. Als sie während ihres Medizinstudiums in den Semesterferien im Krankenhaus gejobbt hatte, war ihr aufgefallen, dass der Anästhesist immer dann gerufen wurde, wenn es wirklich brenzlig war. Ein machtloses Team in der Notaufnahme atmete auf, als der herbeigeeilte Anästhesist einen Tubus in Kindergröße zwischen die geschwollenen Stimmbänder zu zwängen wusste. Eine schimpfende Schwester, die keine Vene finden konnte, überschlug sich vor Dankbarkeit, als der Anästhesist schnell und schmerzlos einen Zugang legte. Wenn es darauf ankommt, wenn es ernst ist, dann übernimmt der Anästhesist das Ruder und lotst das Team zu einer Lösung, so dramatisch die Situation auch sein mag. Ein Bauch wird brüsk aufgeschnitten, um ein Baby aus der Bedrängnis zu retten, ein von Kugeln durchsiebter Mann liegt schreiend in der Notaufnahme, ein unter einer Straßenbahn zerquetschtes Bein wird auf der Straße amputiert – der Anästhesist bringt Erlösung.
Du bist so etwas wie der Torwart in einer Fußballmannschaft, denkt Suzan. Während der Operation kann es lange Zeit langweilig sein, du wartest und behältst alles im Auge. Das Spiel findet auf der anderen Seite statt, hinter dem Tuch. Aber plötzlich setzt die Bedrohung ein, der Ball kommt in deine Richtung. Dann musst du bereitstehen, eingreifen, mit ganzer Aufmerksamkeit eine adäquate Rettungsaktion ausführen.
Die Schmerzbekämpfung schenkt ihr die größte Befriedigung. Ihr kommt es zu, den Patienten vor Schmerzen zu bewahren. Jeder hat Angst vor einer körperlichen Verletzung und den damit verbundenen Schmerzen. Sie kann das Opfer von diesen Schmerzen erlösen. Sie stellt sich den Schmerz als flammend roten, versengenden Feuerball vor, der auf den hilflos daliegenden Patienten zugeschossen kommt und alles zu zerstören droht. Und wie sie dann aufsteht, zu einem Opiat greift und die erlösende Spritze setzt. Der Patient entspannt sich, Ruhe tritt ein, der Feuerball löst sich auf. Dann lächelt sie kurz und empfindet tiefe Zufriedenheit.
Im Aufwachraum sitzt eine hagere alte Dame im Rollstuhl und schaut zu, wie ein junger Assistent die Vene in ihrer Armbeuge zu punktieren versucht. Um ihren Oberarm, der kaum dicker als ein Besenstiel ist, baumelt die Manschette. Suzan nimmt sie ab und setzt sich zu der Frau auf den Hocker, den der Assistent eilends verlassen hat. Sie nimmt die Hand der Frau und massiert den Handrücken.
»Wir sollten lieber distal anfangen«, sagt sie zu dem Assistenten. »Wenn es weiter oben schon zerstochen ist, kriegst du nur Hämatome und Komplikationen. Da hast du dann nichts mehr davon, wenn es peripher schließlich doch geht. Wir arbeiten lieber von außen nach innen.« Der junge Mann nickt.
Suzan heftet den Blick auf die blassblauen, dünnen Gefäße, es scheint, als versuchte sie sich in die minimale Blutzirkulation der alten Frau hineinzuversetzen. Sie klopft sachte auf die Vene – komm, zeig dich, gewähr mir den Zugang – und sticht treffsicher mit ihrer dünnen Nadel das Gefäß an. »Drinnen!«, sagt sie zu dem Assistenten. Er ist gleich mit Pflaster zur Stelle, um das Ganze zu fixieren. »Es hat überhaupt nicht wehgetan«, sagt die alte Dame überrascht. »Danke schön, Schwester.«
Suzan greift in den Nascheimer und steuert den Operationssaal an. Ihr Piepser geht. Akute Gallenblase. »Ich hole ihn«, sagt sie ins Telefon. »Wir gehen in den anderen OP.«
In der Holding Area liegt ein massiger Mann im Bett. Er blickt mit seltsam anmutender Aufgeräumtheit um sich und begrüßt Suzan, als kenne er sie schon seit Jahren.
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