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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Gegen einen gemeinsamen Feind fühlen die Leute sich miteinander verbunden. So simpel ist das. Du denkst natürlich: Warum also nicht alle gemeinsam gegen die biologische Psychiatrie? Aber so läuft das nicht. Der größte Feind ist einer, der einem ganz nahe ist. Der Konkurrent, der Rivale. Also zieht man gegen seinen nächsten Kollegen zu Felde, der die gleiche Ausbildung hat wie du, aber felsenfest davon überzeugt ist, dass eine Analyse erst Analyse heißen darf, wenn sie fünf- und nicht viermal die Woche stattfindet. Der Narzissmus der kleinen Unterschiede – war bei uns früher Unterrichtsthema. Das ist die Energie, die den ganzen Laden da antreibt.«
    Sie blicken auf das Gebäude und erinnern sich, wie sie dort vor Jahren wöchentlich zum Kurs zusammenkamen, jung und noch voller Erwartung, beglückt darüber, Dinge zu lernen, eingeweiht zu werden. Sie sehen graue Frauen aus ihren Volvos steigen und hineinhuschen. Alte Männer in Regenmänteln ketten ihre Fahrräder am Zaun an. Ein betagter Lehranalytiker mit Spazierstock bewegt sich langsam auf den Eingang zu.
    »Weißt du, was«, sagt Peter, »wir machen kehrt. Wir gehen nicht hin.«
    Im Café lehnen sie sich entspannt zurück. Es ist nicht voll, es spielt keine Musik, das Licht ist gedämpft. Sie kommen sich vor wie Schüler, die am Tag der Klassenarbeit spontan beschlossen haben zu schwänzen, und würden am liebsten kichern.
    »Schön, sich vorzustellen, dass sie jetzt alle in dem Saal da hocken, die Koryphäen vorn, die Schüler hinten – und wir hier«, sagt Peter. »Trotzdem fällt es schwer, das Band zu durchtrennen. Das Ganze hat einen ja doch geformt. Und für mich ist es nach wie vor die fruchtbarste Art und Weise, darüber nachzudenken, wie der Mensch tickt, was ihn bewegt. Aber diese Borniertheit, diese Arroganz, diese Scheuklappen – da bekomme ich Zustände. Denkst du manchmal daran, auszutreten?«
    »Austreten! Als verließe man einen Klosterorden! Nein, das beschäftigt mich überhaupt nicht. Ich mache sowieso mein eigenes Ding, ich habe mit alldem nichts zu tun. Na ja, so ganz stimmt das natürlich nicht, schließlich habe ich lauter Leute in der Praxis, die vom Institut an mich überwiesen wurden. Ich bin auch manchmal zu einer Spezialistenbesprechung über Verlauf oder Indikation dort. Das ist meist ganz angenehm, mit den Leuten kann man gut reden, und sie nehmen sich Zeit. Aber die Vereinigung mit ihrem Gehabe tangiert mich nicht. Jedenfalls nicht in diesem Jahr.«
    »Du bist jetzt schon seit zwei Monaten wieder bei der Arbeit. Gefällt es dir eigentlich?«
    Drik trinkt sein Bier aus und bestellt gleich noch eins.
    »Ja. Teilweise zumindest. Es ist schön, dass die Tage wieder ausgefüllt sind und dass es mir tatsächlich gelingt, mich immer wieder für eine Stunde ganz auf jemanden zu konzentrieren. Die Kluft zwischen Arbeit und normalem Leben, die bereitet mir Schwierigkeiten. Wenn ich beschäftigt bin, denke ich: Ich funktioniere, mir fehlt nichts. Aber danach sitze ich in einem leeren Haus, in dem noch überall Hannas Sachen stehen. Dann flüchte ich zu euch und lasse mich von Suzan umsorgen. Das tut zwar gut, und ich habe das gewiss gebraucht, aber es beklemmt mich auch. Ich möchte nicht von jemandem abhängig sein. Und ich habe den Eindruck, dass ich Suzan zur Last falle, obwohl sie es selbst nicht so empfinden dürfte, glaube ich.«
    Peter sieht ihn nachdenklich an. Sie schweigen. Ein Grüppchen junger Mädchen kommt herein. Makellose, unbekümmerte Kinder, die ihre Mäntel abwerfen und ihre Haare ausschütteln. Sie setzen sich in die andere Ecke des Lokals. Ihre Unterhaltung ist wie das Meeresrauschen, ihr hin und wieder aufklingendes Lachen wie eine umschlagende Welle.
    »Suzan findet es schön, dass sie etwas für dich tun kann«, sagt Peter. »Sie denkt, dass sie dich immer benutzt hat, als Vorbild, an dem sie sich spiegeln und aufrichten konnte. Sie war immer die kleine Schwester, und jetzt genießt sie ihre Überlegenheit. So ist zumindest mein Eindruck. Aber es ist wohl noch ein bisschen komplizierter, es hat auch mit Hanna zu tun. Hanna war ihre beste, vertrauteste Freundin. Wenn Suzan jetzt für dich kocht, tut sie etwas für Hanna. Und ein Abwehraspekt spielt auch noch mit hinein: Wenn man so improvisiert und leicht verzweifelt zusammen am Küchentisch sitzt, hält das irgendwie die Zeit an, und es ist, als läge Hanna immer noch im Sterben. Wir brauchen uns noch nicht in die Wirklichkeit zu begeben, wir bleiben in

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