Die Betäubung: Roman (German Edition)
Mädchen stecken ihre Haare heute mit einer solchen Leichtigkeit hoch, das konnten wir früher nicht, bei uns war das immer eine Entscheidung, zu der man sich durchringen musste, runterhängen lassen oder hochstecken, jeden Morgen, ein Kampf mit Spangen und Haarspray. Sie wählt einen Tisch aus und zieht Hettie und Jeroen mit. Tjalling sitzt schon dort, das ist schön. Sie setzt sich neben ihn. Kurz darauf gesellen sich Birgit und Kees dazu.
»Ich hatte gar keine Lust«, sagt Suzan zu Tjalling, »ich wollte echt nicht kommen. Jetzt finde ich es doch ganz nett.«
»Wir unterwerfen uns der Abteilungsdisziplin. Sehr gut, wie Vereycken das aufzieht, die Assistenten fühlen sich aufgenommen. Die Neuen müssen sich ja in kürzester Zeit Dutzende von Namen merken, dabei hilft so ein Abend natürlich. Ich gebe mich gern dafür her. Außerdem kann ich jetzt endlich mal in Ruhe mit dir schwatzen.«
Es wird Wein eingeschenkt. Vereycken stellt sich an ein Mikrofon und heißt alle willkommen. Wo ist Simone, denkt Suzan plötzlich, ob sie Dienst hat? Ich hätte sie anrufen sollen. Gleich morgen. Bericht erstatten. Nicht vergessen.
»Achtung, jetzt wird’s interessant«, sagt Tjalling. Der Professor dankt Livia für ihre Bemühungen und spricht allen Anästhesisten seinen Dank dafür aus, dass sie sich so schnell der neuen Weiterbildungsstruktur verschrieben haben. Auch für die Assistenten hat er ein freundliches Wort, und die Wissenschaftler ernten Lob, da die Forschungsgruppe Schmerz Drittmittel in beachtlicher Höhe hereingeholt hat.
»Wir sind hier mit fast sechzig Personen versammelt. Unmöglich, da auch noch die anästhesietechnischen Assistenten, die Pflegekräfte und das Reinemachepersonal einzuladen. Aber wir sollten uns darüber bewusst sein, dass all diese Mitarbeiter gleichermaßen zu unserer Abteilung gehören. Sie tragen ihren Part dazu bei, das sollten wir nie vergessen. Zu guter Letzt wünsche ich euch allen ein geselliges, festliches Mahl und erhebe mein Glas auf die schönen Erfolge des zurückliegenden Jahres. Vielen Dank euch allen!«
Wie macht er das nur, denkt Suzan. Er erteilt uns einen Verweis, er will damit sagen, dass wir dem Personal gegenüber zu unachtsam sind, dass wir den Putzkräften nicht die nötige Anerkennung zollen – und man empfindet es wie eine freundliche Anleitung, eine beiläufige Bemerkung, man hat überhaupt nicht den Eindruck, dass er uns zurechtweist. Ich wünschte, ich könnte das. Etwas zu Roos sagen, ohne dass es klingt, als wolle ich sie kritisieren. Die Gabe müsste man haben.
»Total überzogen«, hört sie Tjalling sagen. Ruckartig ist sie wieder in der Gegenwart. Wovon redet er?
»Wenn vier verschiedene Leute kommen, um dich zu fragen, wie du heißt und woran du operiert werden sollst, stimmt doch etwas nicht. Da denkst du doch, du bist in der Klapsmühle. Das ist hirnrissig.«
Suzan hat mehr Verständnis für diese Sicherheitsmaßnahmen. Verwechslungen sind eine Katastrophe. Und bei der heutzutage geforderten Transparenz ist man sofort dran, und die Abteilung mit. Jedes Krankenhaus hat eine Beschwerdekommission. Sie weiß zwar, dass es nicht so einfach ist, die Beschwerde auch tatsächlich vorzubringen, denn auf der Website ist keine Adresse oder Telefonnummer zu finden, doch der hartnäckige Patient sucht weiter oder ruft gleich bei einer Zeitung oder einem Fernsehsender an. Das ganze Krankenhaus gerät in Misskredit und wird von den Versichererlisten gestrichen. Ein unglaublicher Schlamassel – von dem, was der Patient durchmacht, ganz zu schweigen.
»Das kommt daher, dass wir uns untereinander nicht kennen«, wettert Tjalling weiter. »Alles zu groß. Zu viele Leute. Du besprichst die Operation mit deinem Patienten, in der Ambulanz, und dann siehst du ihn nie wieder. Der hat am Morgen seiner Operation ein anderes Gesicht über sich. Ein Fremder fragt nach seinem Namen und der Art des Eingriffs. Das sollte sich Vereycken mal vornehmen. Wer sich ein bisschen in Logistik auskennt, könnte im Handumdrehen ein Computerprogramm dafür entwickeln. Wenn wir Menschen mit Robotern operieren können, muss so eine Programmierung doch ein Klacks sein.«
Die Vorspeise ist serviert worden. Suzan lässt sich noch einmal Wein einschenken.
»Warum reden wir über so was, Tjalling. Erzähl mir lieber, wie es dir geht. Fährst du in Urlaub?«
»Ich hasse Urlaubsreisen. Ich arbeite lieber. Weißt du, dass ich noch zwei Jahre bleiben darf? Vorige Woche hatte ich ein Gespräch
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