Die Betäubung: Roman (German Edition)
behaupten. Das könne ich nicht, sagte er.« Ihre mageren Schultern zucken jetzt unkontrolliert.
»Am besten steigen wir hier mal aus«, beschließt Suzan. »Komm, wir gehen dein Gesicht waschen.«
Am Waschbecken schauen sie dann beide in den Spiegel. Hettie schluchzt noch ein bisschen.
»Aus meiner Sicht gibt es zwei Arten von Anästhesisten«, erklärt Suzan. »Die Angepassten und Dienstbaren auf der einen Seite, und die Herrscher auf der anderen. Die Herrscher nehmen den Kampf auf, die wollen neben den Chirurgen aufs Podium. Die fordern einen eigenen Behandlungsvertrag mit dem Patienten.«
Hettie starrt in den Spiegel. Sie nimmt die Klammer von ihrem Hinterkopf, und die Haare fallen zu beiden Seiten ihres Gesichts herunter.
»Ich habe noch gar nicht richtig angefangen«, sagt sie. »Ich kenne mich noch gar nicht aus.«
»Nimm dir Zeit. Schau dich gut um. Vereycken hat dich schließlich angenommen, oder? Das heißt, dass er sich etwas von dir verspricht. Du solltest dich nicht so schnell einschüchtern lassen. Wer war denn der Kerl?«
Hettie wischt sich vorsichtig mit einem Papierhandtuch die Wangen ab.
»Ich konnte seinen Namen nicht verstehen. Er trägt eine Brille.«
»Jan-Peter«, weiß Suzan. »Ja, das ist ein Alphamännchen. Er ist gut in seiner Arbeit, aber er muss sich auch überall in Szene setzen. Nimm es dir bloß nicht so zu Herzen.«
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und schickt Simone eine SMS. »Wo steckst du? Du verpasst was!« Die Marschmusik ist bis in die Toilette zu hören.
»Geht es wieder? Kommst du mit?«
Inzwischen haben sich weitere Kollegen der oktroyierten Kontaktaufnahme entzogen. Hettie geht zu einem Grüppchen mit einigen anderen Neulingen hinüber, die ein wenig verschreckt in einer Ecke stehen. Suzan spaziert durch den Saal und fängt Gesprächsfetzen auf.
»Ein Dilemma! Am Ende der Facharztausbildung weißt du nicht, wofür du dich entscheiden sollst. Angenommen du bleibst, dann bist du Anästhesiologe an einer Universitätsklinik, betreibst Forschung. Prestige! Aber wenn du in die Provinz gehst, verdienst du Zigtausende mehr. Zigtausende!«
Wer sagt das? Suzan dreht sich um und sieht einen stämmigen Mann mit schwarzgerandeter Brille, der auf Winston einredet. Der von sich selbst überzeugte Jan-Peter.
Die entbrannten Diskussionen sind so lautstark, dass niemand mehr auf die Musik achtet. Bram schreit vergeblich ins Mikrofon. Überall stehen Grüppchen beisammen und schwatzen, die Stühle sind verwaist.
»Die Schmerzgruppe ist so überflüssig wie ein Kropf. Hypertrophie! Schmerzen muss man einfach aushalten, so ist es doch!«
»Ein ganz schön übler, kalvinistischer Standpunkt. Ich bitte dich, die Wissenschaft ist doch nun weiß Gott über das achtzehnte Jahrhundert hinaus!«
»Ich finde es einfach empörend, dass Hunderte von Patienten mit ihren Schmerzen Karriere machen. Und es ist bedauerlich, dass wir daran mitwirken.«
Wo ist Berend, wenn man ihn braucht?, denkt Suzan. Der könnte hier ein erlösendes Wort sprechen. Aber das wäre vielleicht gar nicht erwünscht. Das Eis ist gebrochen, die Kollegen nehmen sich plötzlich die Freiheit, bisher für sich behaltene Meinungen zu äußern, scharf und rückhaltlos.
Sie gelangt in eine Gruppe um Rudolf Kronenburg und Luc, den Hubschraubermann. Die beiden stehen zu nah beieinander, und ihre Stimmen sind zu laut. Es wirkt eher wie ein Streit als eine gewöhnliche Unterhaltung.
»Abseitig«, sagt Kronenburg. »Was habe ich mit Luftfahrt zu tun? Dass man mit so einer Heuschrecke schneller bei einem Unfall ist, okay, das verstehe ich. Aber diese Vergötterung von allem, was mit Fliegen zu tun hat – das kann ich nicht nachvollziehen.«
»Es gibt viele Übereinstimmungen«, sagt Luc. »Es geht um Leben und Tod. Es geht darum, sich schnell ein Bild von der Lage zu machen. Beherzt einzugreifen. Unter extremem Stress zu funktionieren.«
»Du lässt dich von diesen Uniformen einwickeln. Wenn einer goldene Streifen am Ärmel hat, fallt ihr ihm gleich zu Füßen. Diese Lehrfilmchen, mit denen die armen Assistenten zugeschüttet werden – lächerlich!«
Lucs Miene wird frostig.
»Da bin ich absolut nicht deiner Meinung. Die finden das alle nützlich. Standardlösungen für Notfälle sollte man automatisieren und regelmäßig üben. Das gilt für uns genauso gut wie für die Piloten.«
»Nervtötend. Gerade weil es Standardsituationen sind, weißt du doch schon alles und langweilst dich bei so einem Film zu
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