Die Betäubung: Roman (German Edition)
mit Vereycken. Alles paletti.«
»Aber irgendwann wird es so weit sein, mit deiner Pensionierung.«
»Herzstillstand während der Arbeit. Und ich untersage euch, mich dann zu reanimieren.«
Suzan denkt an die Sitzung, in der es um die Selbstmorde ging. Soll sie jetzt etwas sagen oder fragen? Tjalling hat Frau und Kinder, ja sogar Enkelkinder. Warum ist Arbeit da das Einzige, wofür er sich erwärmen kann? Sie nehmen vor dem Tod Reißaus, sagte Peter einmal. Männer jenseits der sechzig, die sich auf dem Rennrad oder beim Eisschnelllauf kaputttrainieren, weil sie hoffen, den körperlichen Verfall damit aufhalten zu können.
Tjalling sieht ihr Erschrecken und legt ihr den Arm um die Schultern.
»Keine Sorge, Suus. Wenn ich hier fertig bin, gehe ich in die Entwicklungshilfe. In Burundi operieren, herrlich. Arbeit gibt es überall.«
Bram Veenstra, ein junger, idealistischer Anästhesist, in dessen Aufgabenbereich der Simulationsunterricht fällt, hat sich ans Mikrofon begeben, um das Prozedere des Speeddating zu erklären. Ein heftiger Tumult hebt an, als alle aufstehen und damit beginnen, ihre Stühle in zwei konzentrischen Kreisen aufzustellen. Die Hälfte der Anwesenden soll sich auf die Stühle im Innenkreis setzen, die andere Hälfte zu fröhlicher Musik darum herumparadieren. Sowie die Musik abbricht, sollen sich die Läufer auf die Stühle des Außenrings setzen, um mit demjenigen, den sie nun als Gegenüber haben, ein dreiminütiges Gespräch zu führen.
»Und macht bitte ein richtiges Gespräch daraus«, ruft Bram. »Unsere Patientenkontakte kurz vor der Operation dauern ja auch nicht länger als ein paar Minuten. Nehmt euch diese Zeit, um euch näherzukommen! Fragt nicht nach Urlaubszielen oder dem neuen Auto, sondern sprecht etwas Wesentliches an! Stellt wirklich Kontakt zueinander her!«
Suzan reiht sich bei denen ein, die im Kreis laufen werden. Bram drückt auf einen Knopf, und alberne Marschmusik schallt durch den Saal. Die Reihe setzt sich in Bewegung, Suzan marschiert an den sitzenden Kollegen vorbei. Aus dem Augenwinkel sieht sie Livia, Winston, Vereycken. Die Musik bricht abrupt ab, alle lassen sich auf einen Stuhl fallen. Sie findet sich Bibi gegenüber wieder.
»Ach, wie nett. Komme ich auch mal dazu, ein Wort mit dir zu wechseln. Warum tun wir uns das hier nur an, Bibi?«
Bibi beugt sich vor und legt die Hand auf Suzans Knie.
»Wie beim Kindergeburtstag! Aber ich finde den Einfall gar nicht so schlecht. Hör doch mal.«
Sie sind still und hören tatsächlich das Stimmengewirr von dreißig lebhaften Unterhaltungen.
»Fällt dir irgendein wesentliches Problem ein, über das wir wirklichen Kontakt herstellen könnten?«
»Das Alter«, sagt Bibi. »Junge Leute wie du operieren den ganzen Tag alte Leute. Ohne zu wissen, wie so ein alter Mensch lebt. Viele dieser Eingriffe sind überflüssig, davon geht es niemandem besser, und wenn doch, dann kommt irgendein anderes Gebrechen ans Licht. Für den Chirurgen ist das gut, kann er wenigstens üben. Und der Dienstplan ist gefüllt.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich hätte gern mehr Aufmerksamkeit für die Kinder. Für die Eingriffe, die wirklich notwendig sind.«
»Wir sind nicht Gott«, sagt Suzan. »Wer soll entscheiden, ob man ein altes schwaches Herz besser unbehandelt lässt? Sie können einen Bypass legen, also tun sie es auch. Das ist nicht aufzuhalten. Sag mal, weißt du, warum Simone nicht hier ist?«
Bibi schaut sich um. »Sie wollte eigentlich kommen. Ich weiß nicht. Vielleicht irgendwas mit ihren Jungs?«
Die Musik setzt wieder ein, und Suzan erhebt sich. »Stuhlpolonaise, so hieß das früher. Wir sprechen uns später, ja?«
Ein Stück weiter weg sieht sie Hettie niedergeschlagen, mit kreidebleichem Gesichtchen auf ihrem Stuhl hocken. Noch bevor die Musik wieder abbricht, lässt Suzan sich auf den Stuhl vor ihr plumpsen. Das verursacht einiges Durcheinander und kleinere Kollisionen, aber am Ende sitzen alle wieder.
»Was ist los? Hattest du ein unangenehmes Gespräch?«
Hettie schluckt. Tränen.
»Mit wem denn? War es so schlimm?«
»Er sagte, dass ich ungeeignet bin. Zu schüchtern. Wird nie was mit dir, hat er gesagt.«
»Worüber habt ihr denn gesprochen?« Suzan ist aufgebracht. Das ist doch keine Art, so ein junges Ding dermaßen einzuschüchtern. Noch dazu auf einer Feier.
»Er sagte, man müsse sich auf den Tritt stellen und über das Tuch schauen. Den Chirurgen im Blick behalten. Zähne zeigen. Seinen Platz
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